Hebamme von Sylt
Inselvogt Sie nicht behelligt. Wenn Geesche Jensen die Flucht aufs Festland gelingt, kann sie keine Miete und keinen Kaufpreis einfordern. Und wenn Heye Buuß sie erwischt, erst recht nicht. Jetzt ist sie nicht nur wegen Diebstahls dran, sondern auch wegen Mordes.«
»Glaubt der Inselvogt, dass er sie erwischen wird?«
»Er lässt alle Boote in Munkmarsch kontrollieren. Sämtliche Fischer wissen Bescheid, dass sie sich bei Heye Buuß melden müssen, wenn Geesche Jensen sie anheuern will. Hoffentlich tun sie’s. Für Geld können die schon mal vergessen, was der Inselvogt angeordnet hat.«
»Geesche hat kein Geld, um einen Fischer zu bezahlen.«
»Haben Sie nicht gerade selbst gesagt, sie könnte einen Helfer gehabt haben?« Pollacsek schüttelte den Kopf, als wollte er das Chaos seiner Gedanken in eine ordentliche Reihe bringen. »Gut, dass sich auch noch Erfreuliches auf der Insel ereignet, sonst könnte man verzweifeln! Haben Sie es schon gehört? Elisa von Zederlitz hat sich gestern mit einem Verwandten von Königin Elisabeth verlobt. Ich war gerade bei den von Zederlitz und habe gratuliert.«
Dr. Nissen hatte seine Fassung zurückgewonnen. »Genau das ist auch meine Absicht«, behauptete er und war sogar so kühn zu ergänzen: »Der Graf hat mich persönlich von der Verlobung seiner Tochter in Kenntnis gesetzt.«
Wenn er auch gelogen hatte, Dr. Pollacseks Verblüffung tat ihm gut, dafür hatte es sich gelohnt. Ein Mann in seiner Lage musste nehmen, was er bekommen konnte.
XVIII.
Die Sonne streichelte ihr Gesicht, wie seine Fingerspitzen es getan hatten, sie wärmte sie, wie er es getan hatte, sie machte sie glücklich wie er. Geesche dehnte die Glieder, genoss das Helle, das hinter ihren geschlossenen Lidern stand, und öffnete die Augen erst, als sie genau wusste, dass sie nicht träumte. Nein, sie war wirklich in Freiheit! Nicht mehr in der finsteren, kalten Zelle, sondern in einer Freiheit, die zwar nur geborgt war, die sie aber vielleicht behalten durfte, wenn sie nun alles richtig machte.
Den Wunsch, für ihre Schuld mit einer anderen Schuld zu bezahlen und sich ihre innere Freiheit zurückzuholen, indem sie auf ihre äußere verzichtete, gab es nicht mehr. Er war verschwunden, seit sie vor dem Gefängnis Marinus’ Hand ergriffen hatte, seit er sie mit sich gezogen und sie ihm und dieser wahnwitzigen Hoffnung nachgelaufen war. Der alte Nermin tat ihr zwar leid, und die Erinnerung an sein verzweifeltes Stöhnen machte ihr nach wie vor zu schaffen, aber vermutlich hatte man ihn längst gefunden und von dem Knebel und den Fesseln befreit. Vielleicht brachte diese Erfahrung ihn dazu, die Gefangenen in Zukunft besser zu behandeln.
Geesche streifte die Decke ab und sah sich um. Sie kannte diese Hütte. Im letzten Winter war sie von ihren Besitzern verlassen worden. Die alte Tjarda und ihr Sohn, die sich lange als Strandgutsammler über Wasser halten konnten, hatten schließlich aufgegeben. Von den Strandräubern, die sich an diesem Strandabschnitt niedergelassen hatten, waren sie vertrieben worden. Seitdem war die Hütte dem Verfall preisgegeben, doch das Dach war noch unbeschädigt, und die Wände waren es ebenfalls. Dass die Fenster zerborsten waren, spielte im Sommer keine Rolle. Vermutlich würden sich die Strandräuber im nächsten Winter hier einrichten.
Tjarda und ihr Sohn hatten natürlich all ihre Besitztümermitgenommen, aber Marinus hatte, bevor er sich an Geesches Befreiung machte, für Decken gesorgt und auch für Essen und Trinken. Wie schade, dass er nicht die ganze Nacht bei ihr bleiben konnte! Seine Liebe spürte sie noch in jedem Winkel ihres Körpers, sie machte ihre Glieder schwer, füllte ihre Leibesmitte aus und wirbelte schneeflockengleich durch ihren Kopf. Aber Marinus musste nach Westerland zurück, um keinen Argwohn zu erregen. Außerdem wollte er sich umhören, ehe er zu ihr zurückkehrte. Bevor sie sich nach Munkmarsch aufmachten, sollten sie wissen, welche Maßnahmen der Inselvogt ergriffen hatte. Wenn er damit rechnete, dass sie die Insel verließ, würde er alle Boote kontrollieren. Dann war es besser, in dieser Hütte zu warten, bis die Kontrollen nachließen und Geesches Verschwinden allmählich in Vergessenheit geriet. Natürlich konnte man auch darauf hoffen, dass das viele Geld, das Marinus von seinem Bruder erhalten würde, manchen Fischer dazu brachte, die Anweisungen des Inselvogts zu vergessen. Aber diese Unsicherheit war zu groß.
Geesche stand auf und trat
Weitere Kostenlose Bücher