Hebamme von Sylt
die Rede, der sie in der vergangenen Nacht in der Zelle überfallen hatte? Der sie sogar töten wollte? Dann schwebte sie gerade hier in allergrößter Gefahr, wo Marinus glaubte, sie in Sicherheit gebracht zu haben!
»Mir scheint, der sollte jemanden um die Ecke bringen. Besser, wir wissen von nichts.«
Damit waren die anderen anscheinend einverstanden. Das Gemurmel, das sich erhob, klang zustimmend.
Langsam schob sich Geesche die Düne wieder hinab. Was sollte sie tun? Ins Haus zurück und sich verstecken? Aber wenn sie dort jemand entdeckte, saß sie in der Falle! Womöglich war es besser, sich in der Nähe des Hauses zu verbergen, um diesen Hauke zu sehen und eine Chance zur Flucht zu haben! Sie war sicher, sie würde ihn erkennen. Die große, kräftige Gestalt stand ihr noch vor Augen. Und an seinem Geruch würde sie ihn auf jeden Fall identifizieren. Er roch wie alle Menschen, die obdachlos waren, nach ungewaschener Haut, aber auch nach frischer Luft.
Wenn er zurückkehrte – welchen Weg würde er nehmen? Am Wasser entlang? Dann würde sie ihn schon von weitem sehen können. Womöglich lag er aber immer noch auf dem Boden ihrer Zelle und war seiner Kopfverletzung mittlerweile erlegen? Geesche schauderte es, wenn sie daran dachte. Hoffentlich kam Marinus mit Neuigkeiten zurück. Sie musste hier weg. So schnell wie möglich!
Dr. Nissen war freundlich empfangen worden, so, wie er es erwartet hatte. Graf Arndt ließ seine Frau und seine Tochter entschuldigen, aber er selbst schien sich Zeit für den Besucher nehmen zu wollen, der zu ihm gekommen war, um ihm zur Verlobung seiner Tochter mit Fürst Alexander zu gratulieren.
Er bat ihn in den Salon und bot ihm einen Platz an.
»Meine Frau hat sich in den Garten zurückgezogen. Sie muss sich von der Verlobungsfeier erholen. Die Vorbereitungen waren sehr anstrengend. Und meine Tochter ist heute Morgen mit Kopfschmerzen erwacht.« Graf Arndt lachte etwas künstlich. »Aber bis zur Hochzeit ist sie sicherlich wieder wohlauf.«
Dr. Nissen schien es angebracht mitzulachen. Tatsächlichwar er erleichtert, dass nicht mit der Gesellschaft der Gräfin und der Comtesse zu rechnen war. Aber als Graf Arndt ihm Eiswasser anbot, damit er sich nach dem langen Weg erfrischen konnte, lehnte er ab. So weit wollte er es nicht treiben, dass er sich von Graf Arndt bewirten ließ, um ihm dann zu erklären, warum er wirklich zu ihm gekommen war.
»Ich werde Elisa Ihre Glückwünsche übermitteln«, sagte der Graf freundlich und schien sich auf eine kleine Konversation einzustellen, wie sie in einem solchen Fall üblich war.
Aber Dr. Nissen begegnete seinem freundlichen Gesicht mit undurchdringlicher Miene. Er wollte sofort zur Sache kommen, sonst würde ihn das liebenswürdige Gebaren des Grafen besiegt haben, ehe er sagen konnte, was er sagen musste. »Ich bin noch aus einem anderen Grunde gekommen«, sagte er sehr ernst.
Die Miene des Grafen verschloss sich prompt. Er schien zu spüren, dass etwas Unangenehmes auf ihn zukam. Aber er sagte nichts. Er lehnte sich zurück und schlug sehr langsam die Beine übereinander. Dann blickte er Dr. Nissen abwartend an.
»Ich brauche Geld«, sagte Leonard Nissen ohne Umschweife. »Und ich glaube, dass ich es von Ihnen bekommen kann.«
»Ein Darlehen?«, fragte Graf Arndt, sah aber nicht so aus, als wäre er bereit, Geld zu verleihen.
Dr. Nissen schüttelte den Kopf. »Ich denke, Sie werden es mir gerne überlassen, damit ich über etwas schweige, was sehr unangenehm für Sie werden könnte.«
Graf Arndts Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Das klingt wie eine Erpressung.«
Bis zu diesem Augenblick hatte Dr. Nissen gesprochen, als wäre er ein anderer, jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie widerlich es war, was er zu tun gezwungen war. Aber nun musste er den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen. »Ich habe etwas herausgefunden«, sagte er und hoffte, dass der Graf ihm nicht ansah, wie schwer ihm die folgenden Worte fielen. »Siehaben die Hebamme nach der Geburt Ihrer Tochter veranlasst, Ihnen ein anderes Kind auszuhändigen. Ein gesundes Kind. Das Kind von Freda Boyken.«
Graf von Zederlitz’ Gesicht wurde aschfahl. Hatte es bis dahin noch einen kleinen Zweifel in Dr. Nissen gegeben, dass er sich die Fakten falsch zusammengereimt hatte, so waren sie in diesem Moment ausgeräumt.
»Elisa von Zederlitz ist in Wirklichkeit die Tochter eines armen Fischers. Und Hanna Boyken ist eine kleine Comtesse. Ein unansehnliches,
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