Heidegger - Grundwissen Philosophie
Das Sichstellen bzw. das Ausweichen vor der Frage nach dem »Sinn von Sein« bezeichnet Heidegger mit dem Ausdruck »Eigentlichkeit« bzw. »Uneigentlichkeit«. Insofern nun das »man« dem Dasein die Frage nach dem »Sinn von Sein« immer schon abnimmt, nimmt es ihm auch den identitätsstiftenden »Entwurf« ab. Das Dasein lebt, wie man lebt, nicht aber so, daß es selbstbestimmt der wird, der es sein will. Die Freiheit und Authentizität der Wahl, die zu einer autonomen Selbstbestimmung gehört und [85] die die Authentizität einer zurechnungsfähigen Person überhaupt erst verbürgt, ist dem Dasein durch das »Man« abgenommen.
Mit der »Verlorenheit in das Man ist über das nächste faktische Seinkönnen des Daseins – die Aufgaben, Regeln, Maßstäbe, die Dringlichkeit und Reichweite des besorgend-fürsorgenden In-der-Welt-seins – je schon entschieden. Das Ergreifen dieser Seinsmöglichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen. Das Man verbirgt sogar die von ihm vollzogene stillschweigende Entlastung von der ausdrücklichen
Wahl
dieser Möglichkeiten. Es bleibt unbestimmt, wer ›eigentlich‹ wählt. Dieses wahllose Mitgenommenwerden von Niemand, wodurch sich das Dasein in die Uneigentlichkeit verstrickt, kann nur dergestalt rückgängig gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst.« (SZ 268)
Heidegger verknüpft hier die transzendental und hermeneutisch verfahrende Daseinsanalytik mit dem existenzphilosophischen Motiv, daß das menschliche Dasein sich selbst aus seinen Möglichkeiten versteht, es selbst oder nicht es selbst zu sein, so daß es immer vor der Alternative von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit steht. Das von Sören Kierkegaard (1813–1855) existenzialistisch zugespitzte Motiv der Verantwortung für das eigene Heil übersetzt Heidegger so in die Formel von der Sorge um die eigene Existenz: »Das Dasein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Selbst geht.« (SZ 191) Und insofern der Mensch von Hause aus ein ontologisches Wesen ist, dem die Seinsfrage existenziell aufgenötigt ist – Heidegger spricht hier deshalb auch von einer ontischen Verwurzelung der existenzialen Analytik –, ist die Seinsfrage »nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst wesenhaft gehörenden Seinstendenz« (SZ 15).
Die These, daß das theoretische Weltverhältnis von unserem praktischen Weltverhältnis abhängig ist, wird damit noch einmal dahingehend verschärft, daß das theoretische und praktische Weltverhältnis von unserem
praktischen Selbstverstehen
[86] abhängig sei. Heidegger behauptet, daß das »Verstehen der Existenz« immer auch ein »Verstehen von Welt« sei. (SZ 146) Das praktische Selbstverstehen der eigenen personalen Ich-Identität würde dann nicht nur das theoretische, sondern auch das praktische Weltverhältnis fundieren.
Nun ist der erste Teil der Abhängigkeitsthese, wonach unser theoretisches Weltverhältnis in unseren praktischen Besorgungen gründet, gut begründet. Problematisch scheint der zweite Teil, insofern das »Verstehen der Existenz« nicht das hermeneutische Verstehen fundieren kann, da es bereits an eine intersubjektiv geteilte Sprache und damit an das hermeneutische Verstehen gebunden ist. Gleichwohl hat Heidegger hier einen wichtigen Aspekt der Selbstbewußtseinsproblematik angesprochen: Er erweitert mit Rekurs auf das praktische Verhältnis zu mir als denkendem und handelndem Subjekt den Begriff des Selbstverhältnisses über den des theoretischen Selbstbewußtseins hinaus, auf den dieser seit Descartes eingeengt war.
Die zur Angst verschärfte Sorge um das eigene Sein, die Heidegger den Leitfaden für die Analyse der zeitlichen Verfassung an die Hand gibt, macht dem Selbst begreiflich, daß dieses sich nicht aus dem »Man« verstehen kann, sondern sich aus seinen Möglichkeiten ergreifen und seine Existenz selbst in die Hand nehmen muß. Und wer dieser Entscheidung auszuweichen versucht, wer die Frage nach dem guten oder nicht verfehlten Leben glaubt aus der Perspektive Dritter beantworten zu können, so daß man nun selbst macht, was »Man« macht, der hat sich schon für ein Leben im Modus der Uneigentlichkeit entschieden.
Und in der Tat. Selbst wenn man den Substantivierungen des Selbst und der als »Man« eingeführten anderen nicht folgen will, so wird man doch einräumen müssen, daß die Frage nach dem »Sinn von Sein«, so sie wirklich radikal gestellt wird, die
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