Heidegger - Grundwissen Philosophie
gelingt Heidegger nicht, denn die umweltliche Begegnung mit dem anderen als Wesenszug des uneigentlichen Miteinanderseins durchbricht nur der Tod. Eigentlichkeit als abstrakter Kern des Selbst findet an ihm ihr Maß und ihr Ideal. Im Tod allein sind alle Bezüge zum anderen Dasein gelöst. Die aus der Unbezüglichkeit des eigentlichen Selbst erwachsene Einsamkeit, Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »existenzialen Solipsismus«, wird so innerhalb der Sozialontologie zum Urfaktum des eigentlichen Selbstseins. 39
Diese Unbezüglichkeit des Todes, die dem Dasein zu verstehen gibt, daß es letztlich allein ist, wirft ihren Schatten auf alle intersubjektiven Beziehungen. In seinem Eigensten ist das eigentliche Dasein nicht weniger einsam als das transzendentale Ego bei Husserl. Insofern bei Heidegger die Eigentlichkeit »zum sich selbst verhaltenden Verhältnis wird, unter dem sich nichts mehr denken läßt« 40 , ist sie gerade das nicht, was eine [83] intersubjektive Beziehung immer schon voraussetzt: ein soziales Verhältnis zu anderen. Konstituiert sich im Miteinandersein kein eigentliches Selbst, gewinnt das Dasein seine Eigentlichkeit ohne positive Möglichkeit des Mitseins, so heißt das, daß hier auch ein eigentliches Verstehen nicht mehr stattfinden kann.
So hat Heidegger mit dem »Man« zwar die anderen in die Erörterung des Mitseins einbezogen. Insofern diese Erörterung aber bei der Bestimmung des eigentlichen Sich-zu-sich-Verhaltens entweder völlig fehlt oder nur als dessen negative Kontrastfolie fungiert, bekommt auch das hermeneutische Problem des Verstehens eine paradoxe Fassung. Und dies nicht nur, weil bei Heidegger, etwa im Unterschied zu George Herbert Mead (1863–1931), die »Berücksichtigung institutioneller gesellschaftlicher Zusammenhänge und die daher vorgegebenen Rollen« fehlen 41 , sondern weil Heidegger zwei Thesen unkritisch miteinander verkoppelt: Erstens die These vom »Sein zum Tode« als Bedingung der Möglichkeit für Eigentlichkeit und zweitens die These, daß im Modus der Eigentlichkeit ein ausgezeichneter Modus des Verstehens vorliegt.
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit
Die erste These, mit der Heidegger eine »Kluft« zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zu legen gedenkt, besagt, daß die Konfrontation mit der »unüberholbaren« Möglichkeit des Todes »von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten« befreit. (SZ 264) Insofern es hier dem »Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin« geht, ist das »Sein zum Tode« die Bedingung der Möglichkeit einer »Wahl«, die Heidegger
eigentlich
nennt. Diese These für sich genommen scheint nicht problematisch. Sofern die praktische Frage nach dem »Sinn von Sein« in einer radikalen und wirklich grundsätzlichen Weise gestellt wird, etwa als Frage »Wie soll ich [84] leben?«, so daß sie sich nicht auf diese oder jene Handlung bezieht, sondern unser Handeln und damit unser Leben im Ganzen in Frage stellt, richtet sie sich immer an eine 1. Person Singular.
Klarerweise hat dieser Bezug auf eine 1. Person Singular einen
normativen Sinn
. Denn deren Selbstverständnis, wie diffus es auch immer bleiben mag, begründet die Identität eines Ich. In ihm artikuliert sich Selbstbewußtsein nicht als die Selbstbeziehung eines erkennenden Subjekts, sondern als die
ethische Selbstvergewisserung
einer zurechnungsfähigen Person. Und diese zurechnungsfähige Person steht zwar immer in einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt, entwerfen wird sie sich aber stets als einzelne, »als jemand, der für die mehr oder weniger deutlich hergestellte Kontinuität einer mehr oder weniger bewußt angeeigneten Lebensgeschichte
bürgt;
im Lichte seiner erworbenen Individualität möchte er auch in Zukunft als der, zu dem er sich gemacht hat, identifiziert werden« 42 .
Aus dieser ersten Bestimmung ergeben sich vier weitere. Die Frage nach dem »Sinn von Sein« bezieht sich auf eine mehr oder weniger unmittelbare Zukunft, sie bezieht sich auf ein Selbst, dem es um sich selbst geht, sie bezieht sich auf einen Spielraum von Möglichkeiten, der als Spielraum erfragt werden soll, und sie bezieht sich auf jene Grenzen, die diese Möglichkeiten einschränken – denn wenn diese Beschränkungen in Form von Grenzen nicht vorhanden wären, müßte hier überhaupt nicht überlegt werden. 43 Es ist nämlich nicht zwingend notwendig, diese Frage zu stellen. Wir können statt dessen auch segeln oder angeln gehen.
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