Heidegger - Grundwissen Philosophie
Hauptstütze von Heideggers Argumentationsstrategie bezüglich des natürlichen Sinns der Wahrheit als Richtigkeit entfällt, die seinerzeit auf einer ursprünglichen Aneignung der Eigenschaften dieses Begriffs für die Unverborgenheit ausgerichtet war, wird auch für Heidegger deutlich, daß seine bisherigen Analysen die Frage nach der Wahrheit im herkömmlichen Sinne noch nicht beantwortet haben, weil sie sich nur auf die Frage nach der Unverborgenheit erstreckten. Und so stellt er fest: »Die Frage nach der ’Aλήθεια, nach der Unverborgenheit als solcher, ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die ’Aλήθεια, im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen.« (SD 77)
Von dieser Zurücknahme der Ineinssetzung von Wahrheit und Welterschließung ist eine zweite These unmittelbar mitbetroffen, nämlich die metaphysikgeschichtliche These von einem »Wesenswandel der Wahrheit«. Diese These verdankt ihre Plausibilität allein der von Heidegger nun verabschiedeten Voraussetzung, daß im Ursprungsverständnis der Wahrheit eine gegenüber Neuzeit und Moderne reichhaltigere Erfahrung von Wahrheit vorliegt. Wenn freilich der »natürliche Begriff der Wahrheit« nicht, wie ursprünglich angenommen, Unverborgenheit meint, »auch nicht in der Philosophie der Griechen«, dann »ist auch die Behauptung von einem Wesenswandel der Wahrheit, d. h. von der Unverborgenheit zur Richtigkeit, nicht haltbar.« (SD 78) Von dieser doppelten [128] Zurücknähme sind zwar die Erschlossenheitsanalyse und die ihr zugrunde liegende Auffassung von der ontologischen Differenz nicht unmittelbar berührt. Sie macht jedoch deutlich, daß sowohl die metaphysikgeschichtliche These vom Wesenswandel der Wahrheit als auch die Identitätsthese von Heidegger aufgegeben werden. Von der Zurücknahme der Identitätsthese ist freilich nur die starke These betroffen, der zufolge die faktische Erschlossenheit im Sinne von Unverborgenheit mit Wahrheit identisch sei, nicht aber die schwächere These, der zufolge es ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Welterschließung und Wahrheit gibt. Das hat zur Konsequenz, daß der Wahrheitsanspruch nach wie vor mit Rekurs auf das horizontbildende Seinsverständnis relativiert wird, so daß der Sinn von Unbedingtheit, der konstitutiv für Wahrheitsansprüche ist, seinsgeschichtlich eingezogen wird, da ja der Sinnentwurf, als die Ermöglichungsinstanz von Richtigkeit, gegenüber der Frage bezüglich seiner Richtigkeit nicht noch einmal nach seiner Richtigkeit befragt werden kann. 78
Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Heideggers Analyse der vortheoretischen Bewandtniszusammenhänge führt zu dem Ergebnis, daß das »Aufzeigen der Aussage […] sich auf dem Grunde des im Verstehen schon Erschlossenen bzw. umsichtig Entdeckten [vollzieht]. Aussage ist kein freischwebendes Verhalten, das von sich aus primär Seiendes überhaupt erschließen könnte, sondern hält sich schon immer auf der Basis des In-der-Welt-seins« (SZ 156) – heute wird »ebendiese These […] in Quines und Davidsons Holismus im Detail ausgeführt« 79 . Von daher ist es konsequent, wenn Heidegger Sprache und Verstehen gegenüber dem derivaten Modus der Aussage aufwertet. Und insofern der hermeneutische Logos von jenem Sinnhorizont abhängig ist, der als lebensweltlicher Hintergrund fungiert, ist auch die Entmächtigung der reflexiven Potenzen des »Ich denke« als eines Subjekts, das, Münchhausen gleich, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der lebensweltlichen Kontexte herausziehen soll, um sich »aus eigener Kraft selbst einen Boden zu schaffen« 80 , völlig korrekt. [129] Auch innerhalb der analytischen Philosophie ist inzwischen dieser Hintergrund »massiver Übereinstimmung« als Voraussetzung für sinnvollen Zweifel, Meinungsverschiedenheiten und eben auch Aussagen über die Welt als Inbegriff all dessen, was der Fall ist, allgemein anerkannt. Wittgenstein, John R. Searle (geb. 1932), Quine und Davidson haben in je unterschiedlicher Weise auf die Rolle dieses Hintergrundes aufmerksam gemacht, der als eine Voraussetzung all unseres Verstehens fungiert.
Liest man Heideggers These von der vorgängigen Sinnerschließung der Lebenswelt in dieser undramatischen Weise, dann handelt es sich hierbei um den Nachweis, daß Verstehen an ein Vorverständnis gebunden ist, welches uns nicht frei zur Verfügung steht und welches nicht angemessen in einer Subjekt-Objekt-Beziehung
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