Heidegger - Grundwissen Philosophie
Weg.
[134] Die Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«, die auch schon die alte Metaphysik beschäftigt hat, müsse auf eine neue Weise gestellt und beantwortet werden. Und zwar so, daß das Nichts nicht mehr nur als das unbestimmte Gegenüber des Seienden gefaßt wird. Das Sein und das Nichts müssen in der Konkretheit des existenziell gefaßten Daseins verbunden werden, »weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart« (GA 9, 120). Davon weiß weder die traditionelle Metaphysik noch die Wissenschaft etwas. Denn die Wissenschaft nimmt die Wirklichkeit nur unter dem Gesichtspunkt der Vergegenständlichung wahr: »Nur was dergestalt Gegenstand wird,
ist
, gilt als seiend. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst, wenn das Sein des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht wird.« (GA 5, 87) »Das Nichts möchte die Wissenschaft mit überlegener Geste preisgeben.« Würde sich das wissenschaftliche Dasein jedoch nicht beständig selbst mißverstehen, dann würde ihm klar, daß es selbst »nur möglich ist, wenn es sich im vorhinein in das Nichts hineinhält […]. Nur wenn die Wissenschaft aus der Metaphysik existiert, vermag sie ihre wesenhafte Aufgabe stets neu zu gewinnen, die nicht im Ansammeln und Ordnen von Kenntnissen besteht, sondern in der immer wieder neu zu vollziehenden Erschließung des ganzen Raumes der Wahrheit von Natur und Geschichte.« (GA 9, 121)
Heidegger, der mit der Ursprungsphilosophie die Überzeugung teilt, daß die Wissenschaften begründungsbedürftig und begründungsfähig sind, setzt die Metaphysik gegenüber der Wissenschaft wieder in ihre alten Rechte ein, weil er meint, daß es den Raum des Gebens und Nehmens von Gründen nur auf der Basis des von der Wissenschaft preisgegebenen Nichts gibt – womit ein Prozeß in Gang gesetzt worden sein soll, in dem das Allernächste zum Signum des Allerfernsten wird. Denn das Seiende, dem die alleinige Aufmerksamkeit der Wissenschaft gilt, wird zwar auf diese Weise durch die neuzeitliche Vernunft berechen- und beherrschbar, die Technik [135] leistet dazu das Ihre. Der damit initiierte Prozeß der Verwissenschaftlichung führt jedoch dazu, daß die so erschlossene Welt dem Menschen immer fremder wird. Denn das Sein bleibt ihm trotz der gewaltigen Erfolge der Wissenschaften verborgen, so daß er auch den »Sinn von Sein« immer mehr aus den Augen verliert.
Die sich beständig überschlagenden Siege der Wissenschaften sind nach Heidegger teuer erkauft, nämlich mit einem zunehmenden Verlust an Orientierung in einer Welt, die außer Rand und Band geraten scheint. Dabei geht Heidegger davon aus, daß diese »Verfallenheit« der Wissenschaft an das Seiende durch deren eigenes Wesen verursacht sei. »Das exakte Denken bindet sich lediglich in das Rechnen mit dem Seienden und dient ausschließlich diesem.« (GA 9, 308) Nun entspricht dies in gewisser Hinsicht schon der These in
Sein und Zeit
. Denn auch hier behauptet Heidegger ja, daß das vergegenständlichende Denken das Sein nicht erreichen würde. Neu ist, daß er diese »Verfallenheit« jetzt der Metaphysik anlastet und auf deren gesamte Geschichte überträgt. Die moderne Entwicklung von Wissenschaft und Technik erscheint in dieser Perspektive dann als die letzte Konsequenz der sich vollendenden abendländischen Metaphysik, wie sie Nietzsche mit seiner Formel vom »Willen zum Willen« philosophisch auf den Begriff gebracht hat. Die Ursache für diese Vollendung der Metaphysik sieht Heidegger darin, daß sich der Mensch seit Platon als das »animal rationale« begreift und Denken und Handeln unter die Imperative einer wild gewordenen Zweckrationalität zwingt.
In seiner Spätphilosophie, die Heidegger seit Mitte der dreißiger Jahre konsequent entfaltete, erhebt er Nietzsches Denken des Willens zur Macht in den Rang der maßgeblichen metaphysischen Vorbereitung des gegenwärtigen Zeitalters. Anzumerken ist hier, daß Heidegger bei seiner Deutung von Nietzsches »eigentlicher Philosophie« auf das aus dem Nachlaß herausgegebene Konvolut zurückgreift, also nicht auf Nietzsche selbst, sondern auf eine Fälschung. Aber wie dem auch [136] war: Nietzsche wird für Heidegger zum Zeugen, daß der Wille zur Macht dem Zeitalter seinen Stempel aufgedrückt hat. Das totalitäre Wesen der Epoche sei durch die global ausgreifenden Techniken der Naturbeherrschung, der Kriegführung und der
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