Heidelberger Wut
durch Wälder zu rennen und arme Tiere zu erschrecken oder abends auf einem staubigen Tennisplatz herumzutollen. Ich selbst habe nach dem Aufstehen nicht die geringste Lust auf körperliche Tätigkeit. Und abends, nach einem langen Bürotag, noch viel weniger.
»Wegen Seligmann kommen Sie?« Sein Grinsen erlosch. »Ihre hübsche Kollegin war gestern Abend noch bei uns daheim und hat mir ziemlich große Löcher in den Bauch gefragt. Aber ich kann nur wiederholen, was ich ihr auch schon gesagt habe: Ich kenne unseren komischen Nachbarn praktisch gar nicht. Er interessiert mich nicht besonders, und er ist mir auch nicht übermäßig sympathisch, wenn ich ehrlich bin.«
»Gibt es konkrete Gründe für diese Abneigung?«
»Selbstverständlich gibt es die.«
»Dürfte ich erfahren, welche?«
»Würde Ihnen das in irgendeiner Weise weiterhelfen?« Braun sah auf seine sehnigen Hände. »Wissen Sie, ich stecke da nämlich in einem kleinen Dilemma. Seligmann ist, oder besser war, Kunde bei uns. Und da werden Sie verstehen, dass ich … Man soll ja über Tote nichts Schlechtes reden. Und über Kunden schon zweimal nicht.«
»Was bedeutet das, er war Kunde?«, fragte ich. »Und warum sollte er tot sein?«
Braun sah wieder auf. »Ich weiß gar nicht … Sie haben Recht, das ist mir nur so rausgerutscht. Irgendwie hatte ich automatisch das Gefühl, den sehe ich nie wieder. Dass er Kunde war, bedeutet, dass er letzten Mittwoch seine Konten aufgelöst hat. Am Nachmittag ist er hier aufgetaucht und hat alles abgehoben. Alles in allem dürften das ungefähr … Aber das darf ich Ihnen ja eigentlich gar nicht sagen.«
»Er hat sein gesamtes Geld abgehoben?«
»Und die Konten aufgelöst. Das Girokonto und ein kleines Sparbuch.«
»Hat er irgendwelche Gründe genannt?«
»Nein. Und ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Er ist als Kunde kein großer Verlust.«
Sein Telefon klingelte. Er sprang auf und sprach kurz mit einer Frau Hannemann, die sich nach irgendwelchen Zinssätzen erkundigte. Dann nahm er wieder Platz und sah mich auffordernd an. Das Service-Lächeln in seinem Gesicht verglimmte. Aus dem Schalterraum hörte ich Stimmen. Offenbar war inzwischen Kundschaft gekommen.
»Können Sie mir wenigstens einen ungefähren Anhalt geben, über welche Beträge wir sprechen? Fünfstellig? Mehr?«
Braun zog eine schiefe Grimasse. »Okay, was soll’s. Circa neunzehnhundert hat er mitgenommen, alles in allem. In kleinen Scheinen, das wollte er ausdrücklich so. Er wollte immer kleine Scheine.«
»Das bedeutet aber doch, dass er sein Verschwinden geplant hat«, überlegte ich.
Braun erwiderte meinen Blick ruhig und nicht unfreundlich.
»Halten Sie es für denkbar, dass er etwas mit dem Bankraub zu tun hat?«
»Seligmann?« Er lachte auf. »Der Mann ist doch eine Memme! Der kann ja nicht mal eine Fliege erschlagen!«
»Das brauchte er auch nicht. Falls unsere Theorie stimmt, dann blieb er die ganze Zeit im Hintergrund. Irgendwer muss die Informationen beschafft haben. Die beiden Täter wurden vor der Tat nie auch nur in der Nähe Ihres Hauses gesehen.«
Die Miene meines Gesprächspartners verfinsterte sich allmählich. Im Schalterraum lachte eine Frau schrill auf. Ein Mann stimmte ein. Dann war es wieder still. Vermutlich wurde Heiterkeit hier nicht gerne gesehen. Geld ist schließlich eine ernste Sache. Braun warf den zerkauten Zahnstocher in den Aschenbecher und nahm einen neuen.
»Da ist natürlich was dran«, sagte er langsam. Mit zusammengekniffenen Brauen sah er hinaus in die Schalterhalle, nickte zerstreut jemandem zu.
»Halten Sie es für möglich, dass er von dem Geld in Ihrem Tresor wusste?«
»Denkbar ist alles. Er ist ja ziemlich oft hier gewesen. Auffallend oft, könnte man jetzt sogar sagen.«
»Wie oft?«
»Zweimal die Woche, Dienstag und Freitag, immer zur gleichen Zeit am Nachmittag, kurz bevor wir zumachen. Seligmann-Time haben meine Leute schon gesagt, wenn er draußen seinen alten Mazda abgestellt hat.«
»Der Mann hat wirklich merkwürdige Gewohnheiten.«
»Er hat immer nur kleinere Beträge abgehoben. Mal zweihundert, mal zweihundertfünfzig. Er ist einer von diesen altmodischen Käuzen, die EC-Karten für Teufelszeug halten. Der will Bargeld in der Hand haben.«
Ich verschwieg, dass auch mir große, vornehm knisternde Geldscheine wesentlich sympathischer waren als all dies langweilige, bunte und so offensichtlich wertlose Plastik.
»Vier-, fünfhundert Euro in der Woche …«, sagte ich
Weitere Kostenlose Bücher