Heidelberger Wut
aussehen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. »Ich hab den Fall gekriegt, weil Sie doch angeordnet hatten, dass wir uns um die alten, unaufgeklärten Sachen kümmern sollen, und da hab ich halt …«
»Schon okay«, unterbrach ich ihn. »Eigentlich hätte ich es ja wissen müssen. Aber es sind so viele Fälle, und da hatte ich es wohl vergessen.«
»Macht ja nichts«, erwiderte er großmütig. »Jeder vergisst mal was, gell?«
Ich bat ihn, mir einen Überblick zu geben, und wie bei Runkel üblich, dauerte das ein Weilchen.
»Viel haben die Kollegen damals ja nicht rausgefunden. Aber so viel steht fest: Das Mädchen hat am Abend, so gegen sechs, ihr Elternhaus verlassen. Die armen Leute haben damals in der Südstadt gewohnt, in der Panoramastraße. Eine Freundin wollte sie besuchen, hat sie der Mutter erzählt, die wohnte in der Weststadt, bloß ein paar hundert Meter entfernt. Da ist sie aber nie angekommen. Das wundert einen auch nicht, weil die Freundin sie überhaupt nicht erwartet hat. Die waren gar nicht verabredet, und die ist an dem Abend nicht mal daheim gewesen. Anscheinend hat das Kind seine Mutter angelogen.« Runkel hustete und zog die Nase hoch. »– Wie sie um elf noch nicht daheim war, da haben die Eltern angefangen, sich Gedanken zu machen, und dann haben sie bei der Freundin angerufen. Es war aber nicht das erste Mal, dass sie zu spät heimkam. Man weiß ja, wie das ist mit Kindern in dem Alter.«
»Oh ja«, seufzte ich.
»Sie haben dann alle möglichen Leute angerufen, der Vater ist sogar mit dem Auto rumgefahren, um sie zu suchen. Und am Ende, da wollten sie grad die Polizei alarmieren, und da hat’s an der Tür geschellt. Und das waren dann die armen Kollegen, die den Leuten sagen mussten, die Tochter ist vergewaltigt worden und liegt im Krankenhaus.«
Runkel sah mich traurig an. »So was den Eltern erklären müssen, stellen Sie sich das mal vor!« Er schüttelte sich und zog wieder die Nase hoch.
Ich unterdrückte den Impuls, ihm ein Taschentuch zu reichen, und nickte ihm stattdessen aufmunternd zu. »Und wie ging’s dann weiter?«
Er sah auf seine breiten, nicht ganz sauberen Hände. Vermutlich war er wieder einmal beim Bauen. In seiner Freizeit war Runkel unentwegt damit beschäftigt, sein altes Häuschen in Ziegelhausen umzubauen, anzubauen, aufzustocken oder sonst irgendwie zu erweitern, um seinen vielen Kindern ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Das letzte Projekt, von dem ich erfahren hatte, war allerdings eine komfortable Hundehütte für Pumuckl, Runkels Rauhaardackel und jüngster Familienzuwachs, der vor wenigen Monaten auf Grund eines Missverständnisses um ein Haar in der Bratröhre seiner Frau gelandet wäre. Auf Grund dieser Mehrfachbelastung war Rolf Runkel oft ein wenig müde und unkonzentriert. Und nicht wenige seiner Dienstfahrten führten an einem Baumarkt vorbei, hatte ich kürzlich gehört. Aber solange er seine Arbeit machte, ließ ich ihn in Frieden. Ein Vater von fünf kleinen Kindern hat das Recht auf eine gewisse Nachsicht.
»Was das Mädel an dem Abend tatsächlich gemacht hat, wo sie gesteckt hat – kein Mensch weiß es«, fuhr er fort. »Die Eltern waren aber sicher, dass sie einen Kerl getroffen hat. Sie sei die ganze Zeit schon irgendwie komisch gewesen. Und auffällig zurechtgemacht hätte sie sich an dem Abend. Und so lustig sei sie gewesen. Wie die Mädchen halt so sind, wenn sie verliebt sind, nicht wahr.«
Langsam begann Runkel mir auf die Nerven zu gehen mit seiner lahmen Art, Baustelle hin oder her. Aber es half ja nichts. Schneller ging es bei ihm nun einmal nicht. Ich versuchte, mich zu entspannen. Der Tag hatte ja eben erst begonnen.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann gibt es also keinen einzigen Zeugen, der Jule Ahrens in den acht Stunden gesehen hat?«
»Obwohl es so viele Aufrufe gegeben hat, ja. Das war natürlich ein ziemlicher Wirbel damals, das können Sie sich ja vorstellen. Ich erinnere mich selber noch recht gut an den Fall. Ich war zwar nicht direkt dabei, aber die halbe Direktion hat wochenlang Kopf gestanden, weil man einfach nichts gefunden hat. Sie ist aus der Haustür, und dann war sie weg. Kein Straßenbahnfahrer, kein Spaziergänger, keiner hat sie mehr gesehen. Erst spät nachts hat dieser Lehrer das Mädchen vor seinem Haus gefunden. Er hat das arme Ding auf den Rücksitz gepackt und in die Uni-Klinik gefahren. Laut Protokoll der Notaufnahme ist er dort um elf nach zwei angekommen.« Eine Weile starrte er
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