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Heidelberger Wut

Heidelberger Wut

Titel: Heidelberger Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolgang Burger
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hatte es noch drei weitere vorläufige Festnahmen gegeben. Und am Ende, als die Sonderkommission nach sechs Monaten erfolgloser Arbeit aufgelöst wurde, war nur so viel sicher: Jule Ahrens war brutal misshandelt, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und dann vergewaltigt worden. Die Verletzungen im Vaginalbereich waren minimal, während der eigentlichen Penetration hatte sie also keine Gegenwehr mehr geleistet. Der Ort, wo Seligmann sie später fand, kam als Tatort nicht in Frage. Spuren an ihrer zerfetzten Kleidung ließen den Schluss zu, dass man sie im Kofferraum eines Autos dorthin transportiert hatte. Die Tat war vermutlich im Freien geschehen, irgendwo im Grünen, wo es ein wenig Gras gab, rötliche, sandige Erde und dürres Holz. Auch Reste von vertrocknetem Buchenlaub hatte man an ihr gefunden sowie Spuren von Holzkohle.
    Es war, als wäre Jule Ahrens an jenem Abend vor fast zehn Jahren von der Hölle verschluckt und erst acht Stunden später wieder ausgespuckt worden. Ein Kind war sie fast noch gewesen. Wer um Gottes willen brachte so etwas fertig? Seligmann? Ausgerechnet Seligmann? Ich fühlte mich elend.
    Als ich den Ordner zuklappte, meinte ich, eine Staubwolke aufsteigen zu sehen. Draußen tackerten hallende Schritte den Flur hinunter. Eine Tür klappte in der Ferne. Von meiner Sekretärin war nichts zu hören. Das war ihre Art, mich zu bestrafen: Sie ließ mich einfach sitzen und meinen Kram selbst erledigen.
    Schließlich wählte ich Runkels Nummer.
    »Eine Frage noch. Hat man jemals in Erwägung gezogen, dass Seligmann der Täter sein könnte?«
    »Der Lehrer? Wieso denn ausgerechnet der?«
    »Er ist ein Mann.«
    »Aber das ist doch Blödsinn«, meinte Runkel nach längerem Überlegen. »Wieso soll er sie ins Krankenhaus fahren, nachdem er sie so zugerichtet hat? Er hätte doch damit rechnen müssen, dass sie ihn am nächsten Morgen anzeigt, wenn sie wieder zu sich kommt!«
    »Menschen machen manchmal komische Sachen.«
    Natürlich hatte er Recht. Kam Seligmann wirklich als Vergewaltiger in Betracht? Ein Lehrer? Ein guter Lehrer, der bei seinen Schülern beliebt war? Nein, es passte nicht in meinen Kopf. Aber dennoch, die Fakten … Seine Lügerei, dieses ganze merkwürdige Verhalten …
    Plötzlich konnte ich nicht mehr sitzen. Ich sprang auf und begann, in meinem Büro hin und her zu laufen. War es wirklich vorstellbar, dass Seligmann Jule selbst auf dem Gehweg platziert hatte, nur um sie dann kurze Zeit später zu »retten«? Nachdem er sie zuvor stundenlang in seinem Haus gequält und vergewaltigt hatte? Aber auch für seine Version der Geschichte gab es keine Zeugen. Niemand hatte sie bisher in Zweifel gezogen. Sollte dies bei den damaligen Ermittlungen der entscheidende Fehler gewesen sein?
    Etwas in mir sperrte sich hartnäckig gegen diesen Gedanken. Wenn Seligmann Jule vergewaltigt hätte, dann hätte er sie irgendwohin gefahren, möglichst weit weg vom Tatort. Oft genug töten Triebtäter ihre Opfer sogar, nachdem sie wieder bei Sinnen sind, und erkennen, was sie angerichtet haben. Seligmanns Verhalten wäre ganz und gar unlogisch, wenn er der Täter war.
    Ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch.
    So kam ich nicht weiter.
    Ich drückte die Direktwahl-Taste zu Sönnchen. Niemand nahm ab. So rief ich wieder Runkel an.
    »Schaffen Sie mir Seligmann her. In mein Büro bitte.«
    Die zweite Nummer, die ich wählte, war die des Hölderlin-Gymnasiums. Ich hatte Glück, es war gerade Pause, und schon nach einer halben Minute hörte ich die Stimme von Frau Hellhuber, Seligmanns ehemaliger Kollegin.
    »Ich hätte noch eine Frage: Hat er Jule Ahrens eigentlich gekannt?«
    »Aber natürlich«, erwiderte die Lehrerin erstaunt, »Jule war doch seine Schülerin. Wussten Sie das denn nicht?«
    »Sie war am Helmholtz, habe ich gelesen, wie meine Töchter übrigens auch, er am Hölderlin. In unseren Akten steht nichts darüber, dass er sie kannte.«
    »Er musste damals für eine Kollegin einspringen, die in Mutterschutz war. Deshalb hat er am Helmholtz eine Mathematik-Klasse übernommen. So etwas gibt es öfter, bei unserer notorischen Personalknappheit.«
    Von tief unten fühlte ich eine Übelkeit in mir aufsteigen, die sich lange nicht würde vertreiben lassen. Und eine Wut, die mir selbst Angst machte. Vielleicht war es gut, dass es noch einige Zeit dauerte, bis der Dreckskerl hier auftauchte.
    »Sie sehen schlecht aus, Herr Kriminalrat«, stellte Sönnchen befriedigt fest, als sie sich endlich wieder

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