Heidelberger Wut
jemand außen am Fenster. Aber da war nichts. Ich hab nachgesehen. Da war niemand. Sie war natürlich aufgeregt. Da bildet man sich manchmal etwas ein.«
»Und dann?«, fragte ich, als ich mit den nächsten Flaschen zurückkam. Dieses Mal stießen wir an, bevor wir tranken. Es geschah ohne Absicht. Aber es gehörte an dieser Stelle vielleicht dazu. Schicksal? Zufall? Die Flaschen gerieten irgendwie aneinander.
»Wenn ich das wüsste.«
»Irgendwann haben Sie sie ja wohl wieder heimgefahren.«
»Um halb eins, ja. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wegen ihrer Eltern. Und ich hatte ein noch sehr viel schlechteres, wie Sie sich denken können.«
Irgendwo, weit entfernt, schlug eine Uhr. Ich zählte zehn Schläge. Das Bier begann zu wirken. Meine größte Wut war inzwischen verraucht. Ich stand auf und begann wieder, auf und ab zu gehen.
»Mehr gibt es nicht zu erzählen. Den Rest kennen Sie.«
»Das heißt, Sie haben Jule erst wieder gesehen, als sie verletzt vor Ihrem Haus auf dem Gehweg lag?«
Seligmann nickte mit gesenktem Blick.
»Wieso sind Sie mitten in der Nacht noch mal hinausgegangen?«, fragte ich, während ich herumging. »Es war weit nach Mitternacht. Da geht man doch nicht einfach so auf die Straße, ohne Grund.«
Er antwortete nicht.
»Wollten Sie einen Spaziergang machen? Ein wenig frische Luft schnappen? Konnten Sie nicht schlafen nach der ganzen Aufregung, nach Ihrem … Hochzeitsfest?«
Er schwieg.
»Sie waren vielleicht zu aufgedreht, um schlafen zu gehen. Dachten, noch ein bisschen Bewegung, das tut gut. Es war eine laue Nacht, das weiß ich aus den Akten. Ein wenig das frische Glück genießen? War es das?«
Das Letzte hatte spöttisch klingen sollen. Aber es wollte mir auf einmal nicht mehr gelingen, spöttisch zu sein.
»Ich weiß es nicht«, sagte er endlich mit der heiseren Stimme eines Kettenrauchers und routinierten Trinkers. »Seit dreitausendsechshundertfünfzig Tagen denke ich darüber nach, was mich damals auf die Straße trieb. Und ich kann nur sagen, ich weiß es nicht.«
21
»Sogar unser Freund Möricke hat ausnahmsweise etwas Nettes geschrieben.« Liebekind schnaufte am nächsten Morgen frustriert. »Endlich wieder einmal gute Presse, und nun kommen Sie daher und erklären mir, wir haben den Falschen in Haft.«
Allein dass mein Dienstvorgesetzter am heiligen Samstagmorgen im Büro anzutreffen war, zeigte, wie wichtig er die Sache nahm.
»Er ist seit heute Morgen wieder auf freiem Fuß.« Ich erhob mich, trat ans Fenster. Das Sonnenlicht blendete meine müden Augen. Was für eine Schande, endlich begann der Sommer, wenn auch nicht ganz ohne Wölkchen, und was tat ich? Arbeiten. »Seligmann kommt als Täter nicht in Frage.«
»Und was sagen wir nun der Öffentlichkeit?«
»Vorläufig nichts. Und irgendwann die Wahrheit. Dass der Vergewaltiger immer noch irgendwo dort draußen frei herumläuft.«
Ich war übernächtigt und unzufrieden. Diese Achterbahn der letzten Tage von Erfolgen und Geständnissen, Widerrufen und Blamagen hatte Kraft gekostet, merkte ich jetzt. Und nun hing ich auch noch am Wochenende in der Direktion fest, statt mit meinen Töchtern zusammen zu sein, mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Langsam wandte ich mich um.
»Obwohl, das wird mir jetzt erst bewusst: Nach dem, was wir heute wissen, war es ja gar keine Vergewaltigung.« Ich sank wieder auf meinen Stuhl und unterdrückte mit Mühe ein Gähnen. »Ab jetzt haben wir es nur noch mit schwerer Körperverletzung zu tun. Andererseits …« Ich nahm die Brille ab und massierte die Augen. »Der Zustand von Jules Kleidung, die ganze Auffindesituation, alles spricht zumindest für eine versuchte Vergewaltigung. Ich verstehe immer weniger statt mehr. Wir müssen wohl wieder ganz von vorne anfangen.«
»Sie machen mir ein wenig Sorgen, Herr Gerlach.« Liebekind betrachtete mich mitleidig und vergaß dabei sogar, an der Havanna zu schnüffeln, die er zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand heftiger zwirbelte, als dem schwarzen Ding guttat. »Könnte es sein, dass Sie sich zu sehr in diesen Fall verbeißen? Könnte es sein, dass Sie das alles zu sehr an sich heranlassen?«
Vermutlich empörte mich seine Frage deshalb so sehr, weil ich wusste, dass er Recht hatte.
»Ich habe mit Jule gesprochen. Ich habe ihr Gesicht gesehen, ihre Augen. Und jetzt will ich …« Ich verkniff mir den Fluch in Gegenwart meines Vorgesetzten. »Und jetzt möchte ich zu gerne auch in das Gesicht und
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