Heidenmauer
dem Zeigefinger der linken Hand versonnen an ihren Lippen.
Hedwig Kohler ging kurz darauf zielstrebig in Richtung Schreibtisch und suchte die Adresse der Schwester sowie die der Ehefrau aus Tübingen im Adressordner heraus. Lydia Naber beobachtete, wie sie sich suchend am Schreibtisch umsah und ein, zwei Schubladen öffnete, obwohl sie doch genau wusste, in welchem ledergebundenen Hefter die Adressen abgelegt waren. Auch als sie die Adressen hatten und keine weiteren Fragen mehr gestellt werden mussten, blieb Hedwig Kohler etwas zögerlich im Raum stehen. Lydia Naber nickte ihr freundlich zu und meinte, das sei alles gewesen, und Hedwig Kohler verließ mit stockenden Schritten den Raum. An der Tür angekommen, drehte sie sich noch einmal um und fragte: »Was machen Sie jetzt noch?«
»Wir sehen uns einfach noch ein wenig um«, entgegnete Lydia Naber. Dann hörte sie, wie die Tür vorsichtig ins Schloss gedrückt wurde.
»Komisch«, meinte sie, ging zu den Regalen und suchte ziellos zwischen den Büchern. Schielin hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und ging die Unterlagen durch. Nach einer Weile hörte Lydia Naber ein feines, langes Pfeifen, das von Schielin kam. Er saß da und hielt ein braunes A 5-Kuvert in der Hand. Darüber, unter seinem Daumen eingeklemmt, hing ein Packen Fotos, wie sie aus der Entfernung erkennen konnte. Schielin blätterte in schneller Folge durch. »Schau dir das mal an.«
Schon als sie hinter ihm stand, erkannte sie, dass es Hedwig Kohler war, die auf den Fotos abgebildet war. Lydia Naber schnippte mit den Fingern. »Das war es also, was sie gesucht hat. Hab ich’s mir doch gedacht.«
Auf dem ersten Foto war Hedwig Kohler auf dem Ledersofa zu sehen. Sie kniete auf der Sitzfläche, stützte sich mit der linken Hand ab, hielt in der rechten Hand einen aufgespannten Regenschirm über sich und war ansonsten nackt. Der Fotograf, vermutlich Günther Bamm, hatte sie etwas schräg von vorne aufgenommen. Ihre Lippen waren mit schwarzem Lippenstift geschminkt. Das nächste Bild zeigte sie am Boden vor dem Sofa, zwischen den aufragenden Stuhlbeinen dreier umgestürzter Stühle, wieder einen Regenschirm über sich haltend. Es waren insgesamt sieben Fotos, vergrößert und perfekt, was Licht und Kontrast anging. Schielin blätterte die Serie zweimal durch.
»Und?«, fragte Lydia.
»Es wirkt nicht abstoßend.«
»Das meinte ich nicht«, erhielt er etwas genervt zur Antwort, »hat ihr Mann davon gewusst, was meinst du?«
»Das glaube ich eher nicht.«
Lydia Naber nahm ihm die Fotos aus der Hand und sah sie aufmerksam durch. Dann steckte sie die Aufnahmen ins Kuvert und legte es zu ihrer Tasche.
Schielin packte Notebook und Computer in einen Karton, der in der Küche herumgestanden hatte. Dann verließen sie Günther Bamms Wohnung.
»Schöner Garten«, züngelte Lydia Naber über den Zaun und warf einen Blick auf die Dahlien.
»Gehen wir mal davon aus, dass der politisch engagierte Lehrer ihn nicht erschlagen hat«, meinte Schielin.
»Wenn der nicht so ein gutes Alibi hätte, dazu die Krücke und das Gipsbein … also zutrauen würde ich ihm das. Wie der gegen die Tür gedonnert hat, also mein lieber Herr Gesangsverein! Und ich meinerseits gehe mal davon aus, dass in ihrer eigenen Wohnung nicht so ein schöner Blumenstrauß steht.«
»Dieses Alibi, das werden wir schon genauer überprüfen müssen. Das machst du am besten … mit deinem Dialekt … kannst dich da droben auf der Alb besser verständlich machen.«
Lydia Naber ging gar nicht darauf ein, und Schielin fragte: »Was machst du mit den Fotos?«
»Die will ich ihr geben, es ist doch schließlich ihr Eigentum, irgendwie jedenfalls, oder nicht?.«
»Mhm. Und jetzt?«
»Hab ich Hunger.«
*
Günther Bamms Auto war abgeschleppt worden und wurde von den Leuten der Spurensicherung aus Kempten untersucht. Adolf Wenzel veranlasste die Benachrichtigung der geschiedenen Frau und der Schwester, und am Nachmittag sollte die Obduktion in Memmingen stattfinden. Erich Gommert brachte Unterlagen der Staatsanwaltschaft und eine Notiz über einen Anruf, den er entgegengenommen hatte, in Schielins Büro. Er hatte noch seinen Blaumann an. Als sich auf der Dienststelle herumgesprochen hatte, in welchem Outfit Gommi herumspazierte, machten sich Robert Funk und Adolf Wenzel in seltener Eintracht auf den Weg zum Geschäftszimmer. Der Anblick war erschreckend. Alle Kisten, Kartons, Aktenordner, die Telefonbücher ab Jahrgang 1975, verstaubte
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