Heidenmauer
Buddenbrooks ausgesehen haben könnte, und machte dann eine Pause, deutete stumm an eine imaginäre Wand, irgendwo draußen über dem See zwischen Altrhein und Rohrschach. Er zeichnete ein Rechteck, einen Bilderrahmen, breites, dunkel gemasertes Holz. Außen eine umlaufende, vergoldete Kordel, innen ein schmaler von Patinaeinschlüssen gealterter Goldrand. Die Größe – für ein Kind gewaltige Ausmaße – im Katalog würde stehen einhundertsechzig mal einhundert Zentimeter. Ein Ölschinken. Er sackte ein wenig in sich zusammen, bevor er ihn beschrieb. Die bestimmenden Farbtöne waren tiefe, dunkle Grüntöne und alles, was die Palette des Malers an Blau herzugeben in der Lage war. Dazwischen Erdfarben, die ihm eher golden in Erinnerung geblieben waren. Er zog mit der Rechten, die Handfläche seinen Zuhörern zuweisend, einen Strich in die Luft, der auch hätte bedeuten können, bis hierher und nicht weiter. Es war der Vordergrund des Bildes.
»Eine Anhöhe. Es ist Sommer, zu Begin des neunzehnten Jahrhunderts, und nachmittägliche Hitze brütet über dem Land. Ein Weg führt vom rechten unteren Bildrand breit und wuchtig in die Bildmitte, umgeben von Wiesen rechts und einem kleinen Wäldchen links, an dessen Rand zwei mächtige Eichen ihre Wurzeln aus der Erde graben und ihr Blätterdach das ganze linke Drittel des Bildes einnimmt.« Leo Korsch ballte beide Fäuste, was die Wuchtigkeit des Grüns und die Mächtigkeit der Eichen unterstreichen soll.
»Der Weg schlängelt sich diagonal in die Tiefe der Landschaft. Unter den Eichen eine Weidelandschaft, die sich in fernen Hügeln und Wäldchen verliert. Dazwischen Bauern bei der Arbeit, mit Ochsenkarren, weidende Schafe, Kühe, ein paar Ziegen und Frauen bei der Feldarbeit, mit der Art, Kopftücher zu tragen, wie sie seit Millets Ährenleserinnen nie wieder schöner gemalt wurden.« Seine Arme schoben sich beide nach rechts und wiesen auf die weite Fläche hin, die das Bild, wie er sagte, nach rechts fließen ließ.
»Eine Weidelandschaft und im Tal ein See, dahinter Berggipfel, einige, die höchsten Berge natürlich, mit Schnee bedeckt.« Nach der Beschreibung wurden seine Hände ganz still, und ohne Bewegung erzählt er, dass im Schatten der linken Eiche ein Hirtenjunge döste, an eine der Bodenwurzeln gelehnt.
»Und den Weg aus dem Seegrund herauf, sah man ein Mädchen gehen, einen Korb in der Hand.« Er unterbrach und sagte dann ehrfurchtsvoll. »Das war das Bild meiner Tante.«
Seine Frau meinte. »Seien sie froh, meine Herren, nur das kleine Bild erklärt bekommen zu haben. Ich kenne die Variante acht mal zehn Meter und eine Kinoversion gibt es auch noch.«
Schielin und Funk mussten herzhaft lachen. Ihr Gegenüber schmunzelte.
Nach einem Schluck Kaffee und einigen Sekunden der Stille, die das Bild sicher wert war, fragte Schielin. »Wo besteht nun der Zusammenhang mit Günther Bamm.«
Leo Korsch rutschte zurück auf die ausladende Sitzfläche und ruhte am Rückenpolster aus. »Nach dem Tod meiner Tante, wir waren damals schon in London und unsere Tochter war gerade geboren, wurde die Wohnung hier in Lindau aufgelöst und verkauft. Zwei meiner Geschwister lebten und leben noch in Deutschland, und sie haben die Sache ordnungsgemäß durchgeführt. Es hatte alles seine Richtigkeit, und wir haben da nicht im Geringsten Streit miteinander gehabt, nur um das festzustellen. Allein – das Bild tauchte nicht mehr auf. Meine Tante hatte es aber mit absoluter Sicherheit nicht verkauft und auch niemandem geschenkt, denn sie war bis in ihr hohes Alter hinein geistig vollständig präsent und – sie hatte es mir versprochen. Wir haben oft zusammen vor dem Bild gesessen und es betrachtet, immer wieder neue Details entdeckt. Es war sehr schön, glauben sie mir. Ich war über einige Jahre hinweg immer wieder in den Sommerferien in Lindau und, weil es mir und ihr so gut gefallen hat, später auch einige Male im Winter. Nun gut. Dieses Gemälde, von dem ich ihnen berichtet habe, hat mein ganzes Leben geprägt. Es ist allerreinste Romantik, dieses Stück, Romantik, wie sie Novalis den Geist hatte, zu definieren: ›Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.‹
Dem Maler meines Gemäldes war all dies gut gelungen.«
Er legte die Hände auf die Knie und atmete aus, so als wäre eine große Last von ihm genommen. »Ich
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