Heidenmauer
wir auch schon ein paar Mal gehabt. Im einen Fall geht es eben noch gut, im anderen aber stirbt ein Mensch. Dieser Fall – da unten am Kleinen See, in der Nacht … wer immer das getan hat war gut organisiert, zielstrebig, erfolgsorientiert und absolut brutal.«
»Das liest man doch immer in Stellenanzeigen, wenn sie sogenannte Führungskräfte suchen«, meinte Schielin.
»Kriminell hatte ich noch vergessen, aber das steht ja außer Frage«, antwortete sie auf seine Bemerkung.
»Geldbeutel, Brieftasche, die komplette Umhängetasche … alles hat der Täter am Tatort gelassen«, stellte Schielin fest.
Lydia Naber nickte. »Es ging offensichtlich ausschließlich darum, Bamm zu töten. Die Unterlagen, das Geld, alles andere war nicht von Belang für den Täter. Wer so etwas durchzieht, verzichtet doch nicht auf die Tasche, wenn er darin etwas vermutet, was einen Mord wert ist. Der hätte alles ausgeräumt und außerdem einen anderen Ort und eine andere Zeit gewählt.«
»Das ist genau das, was ich auch denke – der Täter hat sein Ziel allein dadurch erreicht, dass Bamm tot war.«
»So ist es wohl. Jetzt kann er keine Bücher und Artikel mehr schreiben.«
Schielin nahm Lydia ein Stück im Dienstwagen mit und setzte sie am Kreisverkehr vor der Seebrücke ab, von wo sie zu Fuß gehen wollte. Die erste Welle des morgendlichen Verkehrs hinüber zur Insel war schon abgeebbt, und es war somit ruhiger geworden. Der Wind hatte nochmals aufgefrischt, und die langen Blätter der Trauerweide, drüben auf der Insel Hoy, wiesen zur Bregenzer Bucht hin. Die Berge dahinter zeigten nur schwach ihre Konturen.
Sie gehörte an diesem Morgen zu den wenigen, die dem Wind den Genuss abrangen und zu Fuß unterwegs waren. Es war nun schon viel ruhiger geworden in der Stadt. Gäste waren nicht mehr in großen Pulks unterwegs, sondern paarweise oder einzeln. Es wurde übersichtlich und der Genuss größer. Zudem verhinderte die Abkühlung, die die Brise mit sich brachte, dass ihr jene Männer entgegenkamen, vor deren Brüsten sich die Kameraobjektive in der gleichen obszönen Penetranz reckten, wie monströse Bäuche unter straff gespannten T-Shirts.
Ab und an ließ sie ihre Handfläche über die Holzauflage des Brückengeländers gleiten und fühlte den sanften Verwerfungen nach, die bereits nach den wenigen Jahren, die die neue Brücke nun existierte, an manchen Stellen auftraten. Dem Ort, an welchem sie Günther Bamm gefunden hatten, schenkte sie lediglich einen kurzen Blick und ging an der Heidenmauer vorbei zum Stiftsplatz. Im Haus zum Cavazzen beschaffte sie sich erste Unterlagen über die Veranstaltungen, die am Sonntagabend auf der Insel stattgefunden hatten. Vielleicht hätte die eine oder andere ja für Günther Bamm interessant sein können. Das Passfoto, das sie in einer Schatulle auf dem Schreibtisch in Bamms Wohnung gefunden hatte, war recht aktuell und sie hatte es am Kopierer vergrößert, um es Zeugen vorlegen zu können.
Sie ging zur Stelle hinter der Kirche St. Stephan, wo Bamms Auto abgestellt gewesen war; ordentlich abgesperrt und ohne eine besondere Auffälligkeit. Wo war er hingegangen, falls er es war, der hier geparkt hatte? Zum Stiftsplatz, den kurzen Durchgang zur Fischergasse oder zur Heidenmauer, wo er sofort auf seinen Mörder traf? Der fehlende Autoschlüssel ging ihr nicht aus dem Sinn. Es konnte auch sein, dass eine andere Person das Auto hier abgestellt hatte.
Am Bahnhof bekam sie einen Kaffee, und Josef Rupfer, ein Bahnler aus vollstem Herzen, machte sich daran, anhand der Kontrollstempel auf den Fahrkarten einen genauen Plan über Bamms Reisewege zu erstellen.
Fast den gesamten Freitag hatte Bamm am See zugebracht. Am frühen Morgen war er mit dem Schiff zur Mainau gefahren. Die Fahrkarte der Fähre belegte, dass er auf dem Rückweg von dort, nur als Person, das bedeutete ohne Fahrzeug, nach Meersburg übergesetzt hatte. Von dort war er mit dem Zug zurück nach Lindau gefahren war. Es war eine etwas eigenwillige Reiseplanung. Wie war er zur Mainau gekommen und wieder zurück zur Fährstelle? Wollte er einfach nur den See genießen, auf einer Holzbank im Freien sitzen, auf Berge und Wasser sehen, sich den Wind um die Ohren wehen lassen und nachdenken. Es gab nicht wenige Menschen, die auf genau diese Weise einige angenehme Stunden verbrachten.
Josef Rupfer hielt sich nicht lange auf, arbeitete sich langsam durch die kryptischen Zahlen und Buchstabenkombinationen der Kontrollstempel, die ihm eine
Weitere Kostenlose Bücher