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Heidenmauer

Heidenmauer

Titel: Heidenmauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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ganze Welt erschlossen, den Nichteingeweihten hingegen nicht mehr als Hieroglyphen bedeuteten. Er notierte, immer wieder nachrechnend, die einzelnen Zugnummern, Stationen und Bahnhöfe. Der Samstag erschien sehr zerrissen. Früh am Morgen war Bamm mit dem Zug nach St. Margrethen gefahren, hatte dort drei Stunden Aufenthalt, um dann mit dem Eurocity weiter nach St. Gallen zu kommen. Nach gut vier Stunden in St. Gallen wies die nächste Fahrkarte mit dem Eurocity den Weg zurück, und abermals legte er einen Stopp in St. Margrethen ein, bevor er am Abend nach Lindau zurückkehrte.
    Auch am Sonntag war er mit dem Zug unterwegs. Die bisher am Rande des alten Holztisches liegende Fahrkarte war im Zug gelöst worden, am Sonntagmorgen. Ziel der Fahrt war München. Das, was Josef Rupfer nüchtern auf sein Blatt Papier schrieb, beantwortete einige Fragen, die den Sonntagabend betrafen, denn Günther Bamm war den Zugnummern der Tickets zufolge erst kurz vor zweiundzwanzig Uhr wieder in Lindau angekommen. Den Termin mit Leo Korsch konnte er also gar nicht wahrnehmen, und eine Veranstaltung hatte er zu dieser Zeit auch nicht mehr besucht. Es musste etwas dazwischen gekommen sein.

    Vom Bahnhof aus streifte Lydia durch die Maximilianstraße, schenkte einigen Schaufenstern einen kurzen Blick und landete endlich am Maria-Martha-Stift. Sie spürte das Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie durch das alte Tor trat, um Fräulein Seidl einen Besuch abzustatten; um diesen hatte die alte Dame diesmal gebeten, was bisher noch nie vorgekommen war.
    Seit ihrer ersten Begegnung, bei den Ermittlungen eines der letzten Fälle, hatten sie sich immer wieder einmal getroffen, und schließlich war es Lydia gewesen, die der alten resoluten Dame half, ihre Wohnung aufzulösen. Robert Funk hatte eine Antiquitätenhändlerin vermitteln können, die angesichts der Fülle der in Fräulein Seidls Wohnung angesammelten Dinge zunächst die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte. Doch nach den ersten groben Sichtungen war schnell klar geworden, dass sich unter den anscheinend wahllos zusammengetragenen Stücken wahre Kleinode befanden. So kam es, dass der anfangs ehrlichem Erschrecken über die schiere Menge an Dingen entsprungene Jammer bald dem professionellen Stöhnen einer sich rundum wohlfühlenden Kaufmannsseele wich.
    Fräulein Seidl hatte – Altenheim hin, Altenheim her – wie immer große Garderobe angelegt, wozu neben eleganten Schuhen eine Perlenkette und eine korrekte Frisur gehörten. Sie verzichtete nach wie vor auf verzweifelt gleichmachende Verhaltensweisen, wie sie es nannte, die ihrer laut geäußerten Meinung zufolge in den letzten Jahrzehnten in einer sogenannten klassenlosen Gesellschaft üblich geworden waren.
    Die Konversation der beiden folgte einem inzwischen schon traditionellen Muster. Lydia musste zuerst berichten, wie es ihr gehe, wie es der Familie gehe, wobei ihr Mann von Fräulein Seidls Frage nach dem Befinden nicht wesentlich betroffen war. Es folgte die Erörterung der aktuellen Wettersituation – samt ihrer Auswirkungen auf Körper, Gemüt und Geist. Es folgten die Ereignisse, die im Lokalteil der Lindauer Zeitung aufgeführt und von geopolitischer Bedeutung waren. Ein Punkt in der Agenda, welcher das eine oder andere Mal entfallen musste. Dann, erst dann, wurde das Gespräch privater. Lydia genoss diese Rituale und war jedes Mal wieder von der Haltung dieser zweiundneunzigjährigen Frau berührt und erstaunt. Das Mark der Zuneigung, welche sie füreinander hegten, bestand aus einer wohlwollenden, liebevollen Distanz.

    Heute richtete sich Fräulein Seidls Nachfrage gleich auf den toten Mann, den man im Stadtgarten gefunden hatte. Lydia erzählte in groben Zügen von dem Fall, was genügte, denn reine, pure Neugierde war nicht der Antrieb für die Fragen. Lydia erzählte von der Mutter des Opfers, die ja auch im Maria-Martha-Stift war, und erntete ein wissendes Nicken.
    »Sie kennen die Mutter?«, fragte sie nach.
    »Ja, sicher. Eine verwirrte alte Frau«, lautete die Antwort, und jedes Wort klang, als erzähle ein Grönländer von Australien.
    Lydia beugte sich nach vorne. »Kannten Sie auch den Sohn von Frau Bamm?«
    »Sicher. Ich habe ihn einige Male hier gesehen. Wie alle Leute heutzutage trug er überwiegend sehr lockere Kleidung, machte aber durch die Art, wie er sich hier bewegte und sprach, den Eindruck eines kultivierten Menschen auf mich, wobei – ein Anzug und eine Krawatte haben noch selten einen

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