Heidenmauer
Schreibtischauflage schlief. Dem Computer misstraute er und trug dort grundsätzlich keine Dinge ein, denen er Bedeutung zumaß – wenn es sich denn vermeiden ließ.
Nun hatte er zwei Termine verschlafen und es gut eine Woche später erst bemerkt. Im Präsidium aber hatte man es bis heute nicht gemerkt und seither nahm er die Schreiben aus dem fernen präsidialen Kempten, die von Kimmel auf seinen Schreibtisch gelegt wurden, mit dem gebotenen Ernst entgegen und widmete ihnen abhängig vom Inhalt die erforderliche Aufmerksamkeit. Ein kleiner aufsässiger Teufel saß ihm aber seit jener Erfahrung im Nacken. Manchmal nämlich juckte es ihn, eines der Schreiben, ganz gleich welches, einfach durch den Reißwolf zu jagen und zu warten, was passieren würde – eine Sonnenfinsternis, Erdbeben, Stromausfälle …
Aber so ein Verbrechen, das traute er sich doch noch nicht.
Jasmin Gangbacher las in den Büchern, die Schielin ihr gegeben hatte. Das Papier war alt, grob vom vielen Holz, und es gab einen muffigen Geruch von sich. Als Erstes nahm sie sich die Landschaftsgeschichte von Bodensee und Hegau vor. Dieser Professor Armbruster hatte einen etwas altmodischen, umständlichen Stil, wie sie fand, und er verhehlte auf keiner Seite und in keinem Buch, wie sehr sein Herz am Bodensee hing. Sie wunderte sich über die Themenwahl der Bücher – vor allem hinsichtlich der Erscheinungsjahre. Alle Publikationen dieses Professors Armbruster waren Ende der Vierzigerjahre und Anfang der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts erschienen. Also gerade ein paar Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges. Ihr Wissen und ihre Vorstellung über die Lebensumstände dieser Zeit, die sie aus den Erzählungen ihrer Großeltern und sonstiger weitläufiger Verwandtschaft hatte, ließen es ihr seltsam erscheinen, dass die Menschen sich damals für Bücher mit Titeln wie Die Lindauer Heidenmauer – unsere verkannten Römertürme interessiert hatten. Dieses Büchlein war im Biene Verlag erschienen, den es sicher nicht mehr gab. Dann waren da noch Titel wie Lindauer Geologie und Landschaftsgeschichte, von 1949, herausgegeben vom Lindauer Museumsverein im Kommissionsverlag der Rathhaus-Buchhandlung, Lindau, vormals Joh. Th. Stettner, und ein kleines Heft mit dem Titel Kleinod Lindau, in welchem Professor Armbruster Zeichnungen von Erkern, Säulen und Fassaden publiziert hatte. In keiner der Publikationen war etwas über die Person von Professor Armbruster zu lesen. Wer war dieser Mann gewesen? Sie brauchte einige Zeit, recherchierte im Internet, telefonierte viel und hatte schließlich einen halbwegs aussagekräftigen Lebenslauf dieses Professors Dr. Ludwig Armbruster beisammen.
Er war katholischer Priester gewesen und Professor für Bienenkunde an der Humboldt-Universität in Berlin, bis 1933. Ihre Augen hingen am Bildschirm, und sie überhörte sogar Erich Gommerts Frage, ob sie vielleicht einen Kaffee wolle, denn was diesem Professor Armbruster widerfahren war, konnte durchaus von Interesse für die Ermittlungen sein. Bewerten mussten das aber Lydia und Schielin. Sie war gespannt, was die beiden zu dem sagen würden, was sie herausgefunden hatte.
*
Zwei Lindauer Adressen hatte Schielin in Bamms Unterlagen gefunden. Sie standen in Zusammenhang mit dem Buch über den Weg der Gemälde durch die Geschichte. Der erste Termin führte ihn nach Schachen. Die Villa lag ein Stück vom See entfernt, umgeben von Platanen, Buchen und Linden. Schielin war sie noch nie sonderlich aufgefallen, obschon man sie vom See aus sehen konnte. Doch da wurde der Blick von anderen Prunkbauten angezogen.
Er hatte am Tor geklingelt, und es war nicht etwa so, dass ein unpersönliches Surren das Tor freigegeben hätte. Es war auch nirgends eine Videokontrolle zu erkennen. Nein – hier funktionierte das anders. Ein Angestellter kam, warf einen prüfenden Blick auf Schielin und führte ihn den Kiesweg entlang zum klassizistischen Gebäude, dem jeglicher Protz abging. Nichts glänzte und blitzte gülden oder silbern, es waren die schlichten Formen, die ihre Wirkung entfalteten. Gedecktes Weiß, unaufdringliches Ocker und eine bordeauxfarbene Bordüre unterhalb des Dachabschlusses – Understatement in seiner deutschesten Form.
Innen zeigte sich das gleiche Bild. Der dunkle Parkettboden war umgeben von abgetönten, hellen Wänden. Wo eine Fläche groß genug war, ein Bild aufzunehmen, war dies umgesetzt worden. Schielin lief an Landschaften, Portraits und Stillleben vorbei
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