Heidenmauer
wenig an der Jacke rissen. Es hätte eine versöhnliche, das Gemüt beruhigende Stimmung sein können, die eines frühen, leidlich warmen Herbsttages eben. Doch es war eine eigenwillige Stille, die in Komplizenschaft mit dem verhaltenen Spiel der Wellen etwas Lauerndes in sich hielt. Selbst die mächtigen Bäume des Stadtgartens wirkten, als würden sie auf etwas warten. Hinter der Heidenmauer erhob sich der Turm von St. Stephan, als gehöre er zu dem steinernen Relikt.
Schielin fuhr weiter zum Bahnhof, ein paar Meter am Hafenbecken entlang und kam so von der Rückseite her bis auf den Bahnsteig, wo er das Fahrrad in einer Ecke abstellte. Pünktlich um sechs Uhr fünfzig fuhr der Regionalzug 5755 aus dem Bahnhof, unterquerte die Thierschbrücke und rollte langsam über den Bahndamm. Dieses kurze Stück war immer wieder ein Genuss. Man fuhr über das Wasser, blickte nach rechts auf den Kleinen See und zur Seebrücke. Links erhob sich der Glockenturm des Hotels Bad Schachen als markantester Punkt am Ufer. Mit gezügelter Geschwindigkeit ging es an den Straßenübergängen vorbei, bis mit stetig wachsendem Geräuschpegel und etwas höherer Geschwindigkeit die lange Biegung der Bregenzer Bucht durchfahren wurde. Heute waren keine großen Momente zu genießen. Graues Wasser, grauer Himmel und selbst die Skyline der Lindauer Insel, die sonst mit ihren Türmen und Türmchen über dem Wasser aufblitzte, wirkte aus der Ferne eher wie eine der Flut zum Opfer gefallene Sandburg.
Eine halbe Stunde später rollte der Zug in den Bahnhof von St. Margrethen ein. Es waren nur wenige Fahrgäste gewesen, die mit Schielin den Zug in Lindau bestiegen hatten. Die größte Anzahl hatte den Zug bereits in Bregenz verlassen. Hier in St. Margrethen endete der Zug und mit Schielin verließen nur vier weitere Reisende den Zug. Eine Frau mit einem kleinen Buben, deren Mann schon am Bahnsteig wartete, und ein älteres Ehepaar, das sich zielstrebig in Bewegung setzte.
Schielin überlegte, wann er das letzte Mal in St. Margrethen am Bahnhof gewesen war, und fand keine Erinnerung. Er kam sich fremd vor an diesem tristen Morgen und stand verloren am Bahnsteig herum. Unter dem Vordach des Bahnhofsgebäudes rauchten zwei Rangierer und bliesen den Rauch genussvoll in den Morgen. Sie unterhielten sich halblaut, und es klang italienisch. Eine grelle Durchsage einen Eurocity betreffend verhallte über den Geleisen. Die wenigen Menschen, die kamen oder gingen, bewegten sich langsam, die schmalen Säulen des Vordaches standen wacker, der Bahnhofsvorsteher, ein langer Kerl in korrekter Uniform und Mütze, tat es ihnen gleich – all das vermittelte die Atmosphäre eines jener verlorenen Bahnhöfe in einer gerade aufstrebenden oder im Untergang begriffenen Holzsiedlung, wie sie in Western geisterhaft aus der Prärie erwuchsen.
Doch hier in St. Margrethen, gleich hinter der gleichförmigen Nutzarchitektur des Bahnhofs, pochte das Herz einer Finanzweltmacht. Die Bankfilialen waren zu Fuß ohne Schwierigkeiten zu erreichen, was vor allem ältere Reisende zu schätzen wussten.
Die Blicke des Bahnhofsvorstands streiften Schielin, der unschlüssig herumstand. Er wartete auf eine Mischung von Inspiration und Intuition, darauf, dass die Seele, die Ausstrahlung dieses Ortes ihn anregten und in die Lage versetzten, Gedanken zu entwickeln, die ihn in seiner Sache weiterbrachten. Es hätte nicht viel sein müssen, eine Eingebung nur, eine Idee, ein einfacher, zielführender Gedanke – es hätte ihm genügt. Was hatte Günther Bamm so auffällig oft hier zu schaffen?
Hinter ihm fuhr der Regionalzug mit quietschenden Rädern an, ein Stück entfernt entleerte sich ein Druckluftschlauch mit einem schmerzenden Knall und schrillem Zischen.
Er drehte sich um, verließ den Bahnhofsplatz nach Süden, folgte den Gleisen und landete drei Minuten später vor dem Café Brassel. Es gab Café Creme von unvergleichlichem Aroma und ein Nusskipf dazu. Endlich war er in der Schweiz angekommen. Er blätterte in einer Ausgabe des ›Du‹ und dachte an nichts. Es kostete Kraft, dem Netz der grauen Wolken zu entkommen, denn sie legten ihre demotivierende Kraft auch auf den Geist. Kaffee war noch immer die beste Methode. Als die Bedienung kam, um abzukassieren, war er dem mentalen Schleier schon ein Stück entkommen und wieder Conrad Schielin, der Ermittler, und nicht mehr ein Suchender. Er holte eine der Fotografien hervor, die er mitgenommen hatte, und zeigte sie der Frau, die das
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