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Heidenmauer

Heidenmauer

Titel: Heidenmauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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der Mensch empfunden, der das getan hatte? Schielin blieb abrupt stehen und fragte Ronsard: »Was glaubst du mein Freund, wie dieser Mensch gefühlt hat? Sein Herz wird geklopft haben, ganz sicher, denn so kalt ist niemand. Und ein Profikiller im eigentlichen Sinn war es auch nicht, denn die verwenden andere Waffen. Ob er wütend war, oder eher voller Angst?«
    Schielin ging weiter. Ronsard stoppte an einem Baum und rieb das Kinn kräftig an der groben Rinde.
    »Nein. Wut kann es nicht gewesen sein. Es wären viel mehr Spuren zu erkennen gewesen. Es hat sehr überlegt stattgefunden. So tötet keiner, der trunken vor Wut das gräulichste Ventil sucht und die Wut ausleben will. Es war im Grunde genommen eine nüchterne Tat. Ja, nüchtern. Hedwig Kohler war wütend, blind vor Wut. Sie hat einfach draufgehauen, ins Dunkel hinein, ganz egal, wen oder was sie traf. Stumme, fürchterliche Wut. Da unten am Kleinen See aber, das war – Angst. Da hatte jemand Angst.«
    Schielin blieb stehen. »Die Rubacher-Sippe ist wirklich widerwärtig. Aber ich bezweifle ganz einfach, dass Günther Bamm derjenige war, der ihnen mit dem, was er da schreiben wollte, so viel Angst machen konnte, dass einer von denen ihn umbrachte. Die Rubachers, weißt du, das sind eher diejenigen, die fähig sind, im Zorn zu töten, die all der aufgestauten Wut über ihr unglückliches Dasein freien Lauf lassen. Gott möge uns und sie davor behüten, dass es einmal Wirklichkeit wird, denn ich weiß nicht, wie diese Typen noch einmal Frieden finden sollen.
    Aber wem hat Günther Bamm Angst gemacht? Das ist die Frage, auf die wir noch keine Antwort haben, mein Freund, und du bleibst alle paar Meter stehen und schabst den Schädel an einem Baumstamm. Das bringt uns nicht gerade schnell voran und hindert meine Gedanken daran, flügge zu werden.
    Welche Angst muss man empfinden, um einen anderen Menschen töten zu können, welche Angst? Glückliche Kinder können ihre Angst ausleben, sie dürfen weinen, schreien, kreischen, davonrennen, Zuflucht und Schutz suchen bei Menschen, denen sie vertrauen. Erwachsene … da ist das schon schwieriger mit den Ängsten. Vertrauen!? Das haben Erwachsene zu kleinen Kügelchen auf denen zepam steht.
    Als ich ein Kind war, hatte ich Angst vor dem dunklen Keller. Und wenn mich meine Mutter am Abend runtergeschickt hat, um ihr etwas zu holen, habe ich mich oben im Dachboden versteckt, obwohl’s da mindestens genauso dunkel war, hinter einer Truhe, in einem düsteren stickigen Loch – an einem Ort also, der fast ebenso gruselig war, wie der Keller, und trotzdem fühlte ich mich sicher und geborgen.
    Das mit der Angst ist also so eine Sache. Ich glaube, Günther Bamm war ein Mensch, dem die abgrundtiefen Ängste, zu denen einige seiner Mitmenschen fähig sind, gar nicht bewusst waren.«
    Schielin drehte eine Runde am Ortsrand von Weißensberg und kehrte wieder nach Hause zurück. Es war dunkel, als er ins Haus ging. Er mochte nichts essen, was ein Zeichen für den Rest der Familie war, möglichst keine Grundsatzdiskussionen anzufangen. Er zog sich mit einer halbvollen Flasche Spitalhalde in sein Zimmer zurück und legte Dinu Lipati auf.
    Er hatte Günther Bamms Notizbuch dabei und blätterte ohne Ziel darin herum. Er war mehr bei der Musik und beim Wein, als bei den Hieroglyphen. Die eingelegten Zettel und Zeitungsausschnitte nahm er ebenfalls in die Hand. Auch die Anzeige des St. Galler Auktionshauses kam ihm wieder in die Finger. Genau! Da hatte er eigentlich nachfragen wollen, es aber vergessen. Schon etwas benommen vom Wein, ließ er versonnen das Zeitungspapier durch seine linke Hand gleiten. Durch den noch dünnen Nebel des Alkohols hindurch, riss ihn ein Wort zurück in die Welt, in der er lebte – die reale Welt, jenseits der Lindauer Spitalhalde, rot, trocken, zwölf Volumenprozent. Jetzt schlug sein Herz, wie das jenes Menschen, dem Günther Bamm vor eineinhalb Wochen gegenübergestanden hatte. Er sah auf die Uhr. Zu spät für Ermittlungen.
    Es hatte drei Uhr geschlagen, als er das Haus verließ. Schlafen konnte er nicht mehr, und er brauchte jetzt die Umgebung der Dienststelle, die Geräusche, den Geruch, alles. Er verbrachte die Zeit im Büro damit, im Bürostuhl zu sitzen, den Zeitungsausschnitt anzustarren und seine Gedanken darüber klar werden zu lassen, was genau geschehen war. Endlich erreichte der kleine Zeiger der Uhr die fünf auf dem Zifferblatt, und er rief bei Lydia Naber an. Als sie bald darauf in die

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