Heike Eva Schmidt
nachdenken, was ich da roch, aber es stank dermaßen, dass man dafür eigentlich ein neues Wort erfinden sollte.
Der Traum wurde mir allmählich zu fies, und ich beschloss, dass es höchste Zeit wäre, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.
Doch als ich die Augen wieder aufriss, war die Gasse nach wie vor dieselbe, und ich steckte immer noch in meinem ausgeblichenen Outfit. Nun wurde es mir wirklich unheimlich. Ich zwickte mich kurz und heftig in den Arm. Keine Veränderung. Ich versetzte mir selbst eine leichte Ohrfeige und befahl mir mit lauter Stimme, gefälligst aufzuwachen.
Nichts geschah. Wo zum Teufel war ich gelandet? Ich rappelte mich auf und stolperte auf zittrigen Beinen ein paar Schritte nach vorne. Ich bog um die nächstbeste Ecke und stand – auf dem Bamberger Marktplatz. Doch ich erkannte ihn kaum wieder. Das kleine Café mit den leckeren Muffins, der H&M-Shop, die zwei Handyläden … alles weg, wie vom Erdboden verschluckt. Dort, wo sich normalerweise die Schaufenster der Läden befanden, blickten mir nur blanke Häuserfassaden entgegen. Und das Gebäude, in dem sich sonst eine Buchhandlung befand, war verschwunden, stattdessen stand da ein mageres Pferd im Geschirr und döste vor sich hin. Sogar der markante Brunnen mit der meterhohen Neptun-Figur, den die Bamberger wegen seines Dreizacks lakonisch-liebevoll den »Gabelmann« nannten, war nicht mehr da.
Auch die Menschen sahen komplett verändert aus. Männer in Kniebundhosen und seltsamen Schnabelschuhen liefen über den kopfsteingepflasterten Platz. Dazu trugen sie lange, uniformähnliche Jacken aus Samt, an deren Ärmeln und Krägen vergilbte Spitzeborten baumelten. Andere hatten einfache Hemden und weite Leinenhosen an, die wie meine Cargohose knapp unter dem Knie endeten. Die Frauen waren entweder so gekleidet wie die, die ich in der Gasse gesehen hatte, oder sie trugen bodenlange Kleider in den Farben schwarz, braun oder grau mit Spitzenkrägen, die bis zum Kinn hochgeschlossen waren. Ich konnte die Szenerie nur mit offenem Mund begaffen. Mein Hirn weigerte sich zu akzeptieren, was ich da sah. Irgendwie hatte ich den Eindruck, versehentlich in einer Filmkulisse für einen Jane-Austen-Film gelandet zu sein.
»Iiiih, eine Hexe!«
Der schrille Schrei riss mich aus meiner Trance, und ich fuhr erschrocken herum. Zwei aufgerissene Augenpaare starrten mich aus schmutzigen Kindergesichtern an, und ein magerer Zeigefinger mit einem dicken, schwarzen Rand unter dem Fingernagel deutete auf meine roten Haare. Das größere Kind von beiden plärrte wieder: »Hexe, Hexe!«
Um mich herum wurden die ersten Leute aufmerksam. Ich merkte, wie der Blick eines Mannes in Samtkniebundhosen verwirrt an meinen Chucks mit den dreckigen Gummikappen hängenblieb. Das fehlte mir gerade noch, ein derartiges Aufsehen zu erregen! Deswegen fauchte ich den Schreihals an: »Halt die Klappe, du Nervensäge. Geh nach Hause und spiel ’ne Runde Playstation, wenn dir langweilig ist!«
Dem Knirps blieb sein Geschrei vor Verblüffung im Hals stecken. Er blickte mich mit offenem Mund an, während das kleinere Kind den Kopf schief legte und fragte: »Was hat sie gesagt?«
»Du und dein Kumpel sollt die Fliege machen! Sonst setzt’s was, capito?«, antwortete ich drohend.
Der Pimpf runzelte die Stirn, als müsse er ernsthaft über meine Worte nachdenken. Der Größere aber warf mir einen furchtsamen Blick zu. »Die Sprache des Teufels«, murmelte er. Dann packte er den Kleinen an seinem fleckigen Leinenhemd und zog ihn hastig mit sich.
Kopfschüttelnd sah ich den beiden nach. Hatten die keine Schule, oder warum trieben die sich am frühen Morgen hier rum? Vorsichtshalber zog ich mir die Kapuze meines Shirts über den Kopf und sah mich verstohlen um. Nichts war mir vertraut, alles wirkte fremd und bedrohlich. Wie ein böser Traum, aus dem es partout kein Erwachen gab.
In diesem Moment war es, als würde mich die Wahrheit mit der Wucht einer Bratpfanne treffen, die mir jemand auf den Kopf haute: Ich träumte nicht. Die Klamotten, die die Leute trugen, der Platz, auf dem ich stand, die Menschen, die ich sah – sie waren real. Auf eine mysteriöse Art und Weise war ich in derselben Stadt wie vor meinem Ausflug in den Drudenkeller, nur zu einer anderen Zeit. Aber wie hatte das passieren können?
Fieberhaft versuchte ich, die letzten paar Minuten in meinem Verlies zu rekonstruieren. Blitzlichtartig, wie Schnappschüsse, tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf: Sina, die mich
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