Heike Eva Schmidt
einsperrte. Meine Fäuste, die an die verschlossene Holztür trommelten. Das zersprungene Fenster, meine Chance, aus dem Keller zu entkommen. Der lockere Stein in der Mauer. Der Hohlraum, das Schriftstück mit den gereimten Worten, der Halsreif …
Als ich an den Kupferschmuck dachte, wanderte meine rechte Hand unwillkürlich nach oben. Und tatsächlich: Er lag noch immer um meinen Hals. Ich erinnerte mich, wie ich die Verse laut gelesen hatte, ehe mir schwindlig geworden war. Hektisch tastete ich nach dem Leder, auf dem die seltsamen Worte eingebrannt waren, doch ich konnte nichts finden.
Eine blinde Panik überkam mich, als hätte man mir eine Decke über den Kopf geworfen. Mir wurde eiskalt, und meine Zähne schlugen aufeinander. Was, wenn ich hier nicht mehr wegkam? Müsste ich für immer in dieser Zeit gefangen bleiben? Würde ich meine Eltern nie mehr wiedersehen? Was sie wohl dachten, wenn ich plötzlich spurlos verschwunden war – ohne Nachricht, einfach so? Bestimmt würden sie sich schreckliche Sorgen machen …
Vor lauter Verzweiflung schossen mir die Tränen in die Augen. Ich wollte nicht hierbleiben, in dieser Zeit, in dieser Stadt, in der mir alles fremd und unheimlich war! Wo es stank und mir Kinder »Hexe« hinterherschrien! Ich wollte nach Hause, zurück ins Jahr 2012, wo ich hingehörte!
Doch mein inständiges, stummes Flehen blieb vergeblich. Ich saß in einem vergangenen Jahrhundert fest.
In meiner Aufregung hatte ich nicht bemerkt, dass in der Zwischenzeit immer mehr Menschen auf den Marktplatz geströmt waren. Erst als ich ein paar Mal angerempelt und von der Masse mitgezogen wurde, tauchte ich aus meiner Verzweiflung auf. Alle schienen dasselbe Ziel zu haben. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte und fürchtete, beim Umkehren von den vielen Leuten niedergetrampelt zu werden, ließ ich mich notgedrungen mittreiben.
Nach ein paar Metern kam die Menge zum Stehen. Zuerst sah ich vor lauter Köpfen – auf denen meistens noch ausladende Hüte oder Hauben thronten – gar nichts. Als ich mich jedoch auf die Zehenspitzen stellte und über die wogende Masse der Kopfbedeckungen blickte, erkannte ich, was die Aufregung verursachte: Holzscheite, die man mitten auf dem Marktplatz übereinandergeschichtet hatte. Jedes einzelne war ungefähr so dick wie mein Oberschenkel. Der Stapel war zirka einen Meter hoch und bestand aus mehreren Reihen quer und längs liegender Hölzer. In der Mitte hatte man einen senkrechten Pfahl angebracht.
Unvermittelt durchflutete mich ein warmes Gefühl des Trostes. Ich kannte diese Scheiterhaufen von den Osterfeuern an der Nordsee. Auf Sylt war es Brauch, in der Nacht zum Ostersonntag große Holz-und Reisighaufen zu entzünden, um die letzen Wintergeister zu vertreiben und den Frühling zu begrüßen. Manchmal wurde auch noch eine Puppe aus Stroh mitverbrannt – als Symbol für den scheidenden Frost.
Offenbar hatte man es im alten Bamberg früher schon genauso gehalten. Wobei »früher« für mich ja eigentlich »jetzt« bedeutete. Dieser Gedanke machte mir wieder bewusst, dass ich immer noch keine Lösung hatte, wie ich wieder in »meine Zeit« zurückkommen sollte.
Ich wurde abgelenkt, als vor mir die Menge in Bewegung geriet. Die Menschen raunten und reckten die Köpfe. Wahrscheinlich würde gleich der Holzstoß angezündet werden. Ob auch gesungen würde, wie damals am Strand von Westerland, wenn die Osterfeuer brannten?
Vier Männer in schwarzen Kutten und mit brennenden Pechfackeln traten hinzu und stellten sich an jeweils eine Ecke des Scheiterhaufens. Das Flüstern und Raunen verstummte. Ich wartete darauf, dass gleich der Chor folgen und das erste Lied anstimmen würde, doch stattdessen trat ein älterer Mann mit einer scharf hervorspringenden Nase vor die Menge. Er trug Hosen, darüber ein Hemd mit bauschigen Ärmeln und eine Weste aus Samtbrokat, die in den Geschichtsbüchern immer »Wams« genannt wurde, wie ich mich plötzlich erinnerte. Ein steifer Spitzenkragen lag wie ein Mühlrad um seinen Hals und reichte ihm fast bis zum Kinn. Mit hochgerecktem Kopf ließ er seinen Blick über die Menge schweifen, ehe er ein Pergament entrollte.
»Margarete Nuss, Gesche Bittl, Paul Morhaupt«, hob er mit lauter Stimme an, »sind angeklagt, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und das schändliche Werk der Hexerei betrieben zu haben …«
Während ich noch verwirrt darüber nachdachte, dass aber doch Ostern war und wieso der Typ da mit dem Teufel anfing, geriet
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