Heile Welt
In hochgehaltenem Zustand kann die Hand warnen oder abwehren oder locken und, hingehalten, zum Gruß dargeboten sein. Die Kinder könnten ihre kleinen Hände auf die große legen und einzeichnen, das könnte«Vertrauen»bedeuten.
Und dann würden größere Hände an die Tafel gemalt werden, eine rechte und eine linke: die Gotteshände, jeden Finger für eines der zehn Gebote…
Der Drohfinger, die Schwurfinger, alles hat seine Bedeutung. Und zwischendurch, zur Auflockerung, die Kinder«knobeln»lassen: Schere, Stein, Papier… Aber lieber nicht knobeln lassen, in Religion wäre das vielleicht doch nicht das richtige?
Matthias unterließ es, sie nach ihren Handlinien zu fragen, das war ja wohl auch irgendwie heidnisch. Außerdem hätte er ihre Hand dann in seine Hand nehmen müssen, und das hätte womöglich zu Mißverständnissen geführt.
Zu so was hatte Matthias keine Lust, er saß dabei und sah sich seine eigenen zur Faust geballten Hände an, die er auf der Tischplatte deponiert hatte, und Elfriede Wehrschild guckte ihn aus ihren kleinen blauen Augen von der Seite an, was er denn nun eigentlich von ihr will? Kommt hier reingeschneit?, und sie sortierte die Blätter und numerierte sie, und dann stand sie auf. Was sie plötzlich für eine großartige Idee hat!, ging nach nebenan, Tür auf, Tür zu, und legte die«Betenden Hände»von Dürer vor ihn hin: Eine Postkarte in Vierfarbdruck, auf der Rückseite mit Hitlerbriefmarke, und wer weiß, wer wem die Karte einst zugedacht hatte.
Matthias hörte zu, was die Kollegin da zu sagen hatte,«lauschen»wäre zuviel gesagt, er nahm’s zur Kenntnis. Da er hier aufgekreuzt war, ohne eingeladen worden zu sein, mußte er hier nun sitzen bleiben und alles über sich ergehen lassen. Er hätte sich jetzt vielleicht dazu äußern sollen, zu all den Händen oder zu der Dürerpostkarte speziell, die er selbst vor vielen Jahren, nebst Alpenveilchen und Volksglobus, zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte. Aber er schwieg, er dachte an die arme Katze, die jetzt draußen umherstrich, und an die eine gewaltige Ohrfeige, die er mal bezogen hatte vom Nachbarn. Wofür? Wofür? Ja, wofür. Das hatte mit seiner Mutter zu tun gehabt. Die beiden im Garten beobachtet und mit Kastanien beworfen.«Tückisch»sei er, das war ausgerufen worden, tückisch und hinterhältig. Und: Ob er sich nicht schämt, hier mit Kastanien zu werfen?
Gern wär’ er ein bißchen über die lieben Kollegen hergezogen, was die für Grabben haben, oder über Egon, den Schulrat: wahrscheinlich doch wohl einen Stich in der Birne? Dessen Eigenheiten erörtern, wie eine Visitation abläuft zum Beispiel, Kenntnisse vervollständigen, die zum Überleben dienlich sein könnten, also Betriebsspionage betreiben. Aber das griff hier nicht, vielleicht traute sie dem Braten nicht. Wahrscheinlich hielten Frömmigkeit und das germanische Mißtrauen ihrer Vorväter sie davon ab, über Kollegen Abfälligkeiten zu äußern,«über sie zu lästern», wie man es auch formulieren könnte.
Ein jeder kehre vor seiner Tür
er findet genügend Schmutz dafür…
Und über den Schulrat schon gar nicht. Sie dachte, daß sie hier vielleicht ausgehorcht werden soll und daß man sie hernach verpetzt. Hier wurde von Händen geredet und von nichts anderem, von sauberen und von schmutzigen, und von Händen, die zu«Halt!»von Polizisten emporgehalten werden, bis hierher und nicht weiter:«Halt!»Oder von andersartigen Menschen zu abwegigem Gruß erhoben,«Heil!», von verbiesterter Menschheit in der hinter uns liegenden Zeit.
Dann memorierte sie – es war wohl tatsächlich ein Memorieren -, was alles der Mensch sich ausgedacht hat, um die Fertigkeiten der Finger zu ergänzen – trotz aller Geschicklichkeit, so unvollkommen unser Körper! – Werkzeuge also: die Kneifzange, wenn einer Nägel rausziehen will aus der Wand, man kriegt ja noch nicht mal eine Reißzwecke aus der Tapete gepolkt… oder das Tablett als ein Gerät zum Vergrößern der Handfläche: Kaffee auftragen: Tassen, Teller, Löffel, Kekse mit Marmeladenstips obenauf.
Matthias dachte ans Klavierspielen: Triller, was das für eine sonderbare Erfindung ist.
Was macht der Mensch, wenn er keine Hände hat?, dachte er auch. Wer putzt ihm die Nase? Und er überlegte, ob er diese Sache hier vielleicht ausbauen könnte zu einer Visitationsstunde? Aber besser nicht tun so was, sonst kommt der Schulrat von Hamersiek nach Klein-Wense und denkt: Was ist denn dies? Das kennst du
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