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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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genommen und streifte ein paar Akkorde auf dem verstimmten Ding. Ellinor nahm ihm das Instrument aus der Hand, aber auch sie brachte nichts Vernünftiges zustande. Wie schade, dachte Matthias, daß ich nicht Laute spielen kann, dann würde ich dort jetzt sitzen und alte englische Madrigale greifen… Oder die Posaune ansetzen, und zart und warm zugleich:«My funny Valentine…»Wie denen das wohl gefallen würde!

    Er konnte keine Madrigale greifen, und seine Posaune hatte er nicht dabei. Er konnte ja im Grunde überhaupt nichts, nur lieb sein, das hatte er drauf, und«My funny Valentine»blasen, das auch.

    «Schulmeister! Geh nach Hause!!»wurde jetzt da drüben gerufen. Säckel hatte die Hände zum Trichter an den Mund gelegt, und deutlich war zu hören, daß Ellinor darüber lachte.
    Sie hatten ihn zwar nicht gesehen, aber sie hatten gespürt, daß er dort sitzt und herüberstarrt.

35

    Ü ber den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen war dann auch mal eine junge Kollegin zu besuchen, Elfriede Wehrschild in Hamersiek, Bauerntochter aus dem Norderdeich. Wenn man selber niemanden besucht, braucht man sich nicht zu wundern, wenn keiner kommt.
    Matthias entschied sich an einem Regentag für dieses Unternehmen, und er dachte: Wie wird sich das Fräulein Wehrschild freuen über dein Kommen! Wir werden in ihrer gemütlichen Wohnstube sitzen und ein Täßchen Kaffee trinken, eine Kerze steht auf dem runden Tisch, und leise Musik kommt aus dem Radio. Und wenn’s hinhaut, dann wird man das zur Gewohnheit werden lassen, wenn einen was drückt, eben mal schnell rüberrutschen nach Hamersiek und über alles reden miteinander. Wer weiß, vielleicht würde es später heißen: Erinnerst du dich noch an den verregneten Sonntag damals?
    Über das Brücklein fuhr er, den Regenschirm über sich, am Müllhaufen vorbei flußaufwärts, durch den Glumm, in dem die unglücklichen Kinder seiner Vorstellung noch immer versanken mit ihrem Lehrer, tiefer und tiefer, Kinder, die in fünfhundert Jahren geledert wieder hervorgeholt werden würden – die letzten Atemblasen als kleine Glaskugeln am Mund -, in einer weiten Museumsrotunde ausgestellt, von Strahlern geheimnisvoll angestrahlt. Postkarten zu zehn Pfennig sind an der Kasse erhältlich. Das Geistermädchen mit den langen blonden Haaren, das ihm hier erschienen war, sah Matthias nicht, das wanderte vermutlich Tag und Nacht, ruhelos von einem Moor zum anderen.
    Einem Bauern auf dem Feld rief er«Guten Tag!»zu, und sein Anhänger hobbelte über den Sandweg. Der Bauer antwortete nicht, der sah ihm nach und schlug sich einen Sack um die Schultern, gegen den Regen. – War das der alte Freede?, dachte Matthias im Weiterfahren. Steht hier im Regen und sammelt Steine von seinem Acker? Über den grauen Himmel zog ein Schwarm Krähen, vom Wind hin und her geworfen.

    Matthias fuhr an einem im Stich gelassenen Hausrohbau vorüber. Der Erbauer hatte es schlau anfangen wollen. Einfach anfangen mit Bauen, in die Hände spucken und anpacken die Sache, mal sehen, was dann passiert: Der weite Blick aus dem Wohnzimmerfenster über das Eischetal hinweg, eine Kostbarkeit! – Aber dann war das Börde-Bauamt in Kreuzthal ihm draufgekommen, daß er überhaupt keinen Plan eingereicht hat und nichts genehmigt und gar nichts, und da hatte die Sache dann aufgegeben werden müssen. Matthias besah sich die Ruine, Küche, Klo und Wohnzimmer waren auszumachen, eine Kette hing an der Wand und klimperte im Wind. In den Ecken, im hineingewehten Laub, lag Hingeschissenes mit Abwischpapier obendrauf. Vielleicht würde man die Sache ja wieder in Gang kriegen können? Für einen Pappenstiel erwerben das Ganze, und die Verordnungen haben sich geändert, Paragraph sowieso.«Wie schön», wird gesagt,«daß Sie die Ruine zu neuem Leben erwecken wollen?»

    Dann radelte er an der abgesoffenen Kieskuhle vorüber, mit einem ehemals blauen, rostigen Förderband darin, und dann war er auch schon in Hamersiek, und er wunderte sich, daß er nicht schon längst einmal hierhergefahren war, der Kollegin einen kollegialen Besuch abstatten.

    Hamersiek war ein kleines Nest, die Schule lag am Dorfausgang, wie ein Försterhaus in ein Birkenwäldchen hineingebaut, mit nachgeäfftem Fachwerk versehen, vom Architekten niedersächsischer Bauernkultur nachempfunden. In den Klassenfenstern hing Strohgebasteltes, wohl noch von Ostern her, oder gar noch aus der Weihnachtszeit? Der graue Volkswagen der Kollegin stand vor der Tür, ein Schaffell

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