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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Kinder kriegen mit, wie’s dem Lehrer geht, ob der vielleicht zu Jux aufgelegt ist.
    «Guten Tag, Herr Lehrer.»
    «Guten Tag, mein Kind. Hast du neue Schuhe an?»
    Die Mädchen mit Schürze, die Jungen in Schnürstiefeln. Knicks, Diener.
    Sie spielten sich aufeinander ein in diesen ersten Minuten, und dann ging das Palavern unmerklich in Unterricht über. Ganz allmählich wurde das angegangen, was man sich für den Tag vorgenommen hatte, das Angenehme und das Nützliche. Mit Rechtschreiben befaßt sich schließlich niemand gern.

    Der Unterricht trieb wie ein Floß den Strom hinab.
    Das einzige Problem war der Lehrplan. Matthias hatte einen Widerwillen davor, in der«Naturlehre»beispielsweise die Luftpumpe einzuführen, wie es der Plan vorschrieb, weil ihn Luftpumpen nicht interessierten. Oder in«Geschichte»: Wie kann man vom Rußlandfeldzug reden, wenn draußen der Birnbaum blüht? Er rutschte die Schulbücher entlang, was grade dran war, peilte er zwar an, aber dann versuchte er doch, sich lieber hinter das zu klemmen, was die Kinder bewegte.

    Deshalb auch jeden Tag derselbe Spruch, dies:«Was gibt es Neues? », und mit dem, was er dabei erfuhr, paßte er sich den Gesetzen des Tages an. Er ließ notfalls seine Vorbereitung sausen und stellte sich auf die Kinder ein.
    Als den Bauersfrauen im Gasthof von fülligen Damen Sommerkleider in Übergrößen vorgeführt worden waren, veranstaltete er am nächsten Tag eine Modenschau, die Kinder durften sich wie Damen anziehen, auf dem«Laufsteg»stellten sie sich überraschend geschickt an.
    Und als Hinrich von den neuen Kuhställen erzählte, in denen die Kühe frei herumlaufen, dachte er an seine Lagerzeit, an den einzigen schönen Sommer, als sie das auch gedurft hatten, frei im Lager umherlaufen innerhalb der Mauern.

    In den Pausen ließ Matthias sich seinen Stuhl vor die Tür stellen, dann guckte er in die Sonne. Die Jungen bekamen einen Fußball, liefen also in der Ferne hinter dem Ball her, und die Mädchen spielten Gummitwist in seiner Nähe, was ein wenig an Kulturfilme von Negertänzen in einem Kraal erinnerte, dies rhythmische Trampsen und Hüpfen: Das war Afrika.«Afrika wartet», in dem Buch war so was abgebildet. Die Frauen beim Hirsestampfen vor den Rundhütten, kleine Kinder im Tragetuch auf dem Rücken. Hinni wollte das auch mal: Seilspringen, und alle zählten mit, wie oft er das kann. Bei«Tausend!»hörte er auf, wofür er einen Ausweis kriegte als bester Seilspringer von Klein-Wense.
    Elfriede war die beste Kopfrechnerin von Klein-Wense, und Hinrich der beste Seilspringer, das stand nun zu Buche. Der beste Lehrer des Landkreises zu sein, diesen Ehrgeiz hatte Matthias nicht – aber ein bißchen schon.
    Auch das Marmelspiel war angenehm zu beobachten. Matthias legte einen besonderen Marmel-Spielplatz an, die Erde festgeklopft und mit dem Schulbesen glattgefegt. Von seinem Stuhl aus beobachtete er die Jungen bei diesem Sport, und er nahm Anteil daran. Wenn einer sich ungeschickt anstellte und alles verpatzte, erbitterte ihn das.
    Das Ende vom Lied war, daß ein kleiner blonder Junge Sieger im Marmelspielen wurde, und der kriegte es ebenfalls in seinem Ausweis schriftlich.
    Thomas Rosenbrook
Klein-Wense
Hausnummer 27
Kreis Kreuzthal
Land Niedersachsen
Bundesrepublik Deutschland
Europa
Erde
Milchstraße
bester Marmelspieler
    Das Paßbild durfte er selbst zeichnen.

    Ebenfalls in der Pause fand der Zwei-Finger-Pfeif-Wettbewerb statt. Ein Bauer mit Sense, der gerade vorüberging, dachte, er wär’ gemeint. Nein, er wär’ nicht gemeint, sagte Matthias, sie hätten nur herauskriegen wollen, wer am besten pfeifen kann. Elfriede war es, die es am längsten und durchdringendsten vollbrachte. Das hätte man gar nicht gedacht, ein Mädchen! Die hatte nun schon zwei Eintragungen im Ausweis. Ein pfeifendes Mädchen, das gut kopfrechnen kann, ebenfalls in der Milchstraße zu Hause.

    Pfeifwettbewerb und Flötwettbewerb.
    Das Flöten war etwas ganz anderes. Ein Flötwettbewerb kann nicht stattfinden, wenn Fratzen geschnitten werden. Wenn einer lachen muß, ist es nichts mit dem Flöten. Bestes Flötekind wurde ein sensibler Junge, der zum Flöten gleichzeitig brummen konnte, der also Zweistimmiges von sich gab.
    Der Flötwettbewerb gab Anstoß, ein allgemeines Fratzenschneiden zu veranstalten. Matthias fotografierte das, und zu Hause stellte er dann fest, daß Grimassen Auskunft geben über verborgene seelische Eigenschaften: Der Kobold, die Hexe und der

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