Heile Welt
Blödmann. Er klebte die Fotos auf Karteikarten und schrieb Meditationen darunter.
«Das wäre doch etwas für die Examensarbeit», dachte er.«Das Grimassenschneiden als Zugang zum Unbewußten…»Alles ganz schön und gut, aber im Schulaufsichtskreis Kreuzthal war so etwas wohl nicht durchzusetzen.
Die Kleinen drängten sich gern an den Lehrer, sie mußten sich immer noch täglich vergewissern, daß von ihm keine Gefahr ausgeht. Sie drehten seinen Stuhl hin und her, und an guten Tagen konnten sie ihm auch mal in den Haaren wühlen oder den Strohhut nach vorn stoßen. Wie der Bär sich von Schneeweißchen und Rosenrot tyrannisieren ließ, so auch Matthias – jedenfalls in Maßen und natürlich nur von den Kleinen. Als sich die dünne Ursula eines Tages auf seinen Schoß setzte, mußte er das nach schicklicher Pause unterbinden, wie gern er das auch ertrug. Das fettige Kinderhaar roch angenehm. Er ließ sie langsam hinuntergleiten, langsam, damit sie keinen Schock kriegt. In einer Wohnhöhle wäre so was gegangen, aber nicht hier draußen, wo Bauersfrauen vorübergehen und das sehen.
Die Kinder erzählten ihm alles mögliche, also das, was die Eltern vielleicht nicht gerade gern hatten, daß es der Lehrer erfährt. Sie hatten es wohl noch nie erlebt, daß ein Erwachsener ihnen zuhörte, und das machte ihnen Spaß.
Daß Papa wieder mal besäpen nach Hause gekommen wär’, erzählten sie, und daß Oma nun schon seit drei Wochen im Bett liegt, obwohl«Mama sagt: die stellt sich bloß an».
Von einer vergrällten Kuh wurde berichtet und von einem Hund, der drei Tage unterm Heu gelegen hat. Sie hätten ihn immer bellen hören, wußten aber nicht, wo sie ihn suchen sollten.
Das vertrauliche«Du»tat Matthias wohl, und die plattdeutsch getönten Geschichten, hochdeutsch vorgebracht, heimelten ihn an. Platt zu sprechen war in den Schulen des Landes untersagt: Bis zum Schulzaun platt, innerhalb der Schule hochdeutsch reden, so sah es das Gesetz vor.«Ammel»statt«Eimer»sagen und«Arwten»statt«Erbsen», das konnte nicht geduldet werden. Diese Trennung zwischen hoch und nieder ging noch auf Martin Luther zurück, wenn der sich nicht für das Hochdeutsche entschieden hätte, dann hätte man ohne weiteres«Ammel»und«Arwten»sagen können, jederzeit.
Morgens früh, wenn die Kinder zu zweit oder zu dritt zur Schule gingen, an den Händen gefaßt, manchmal auch nicht, redeten sie Platt, beim Öffnen der Schulpforte schalteten sie um.
Manchmal brachten die Kinder dem Lehrer was mit, Blumen oder eine Eidechse oder den kleinen Bruder. Dem kleinen Bruder mochten sie Gott weiß was über den Lehrer erzählt haben, der muckste sich nicht, im übrigen hatte er eine hübsche Mütze auf, eine gute Gelegenheit, über Hüte zu sprechen,«Zylinderhut», was das ist. Die verschiedensten Kopfbedeckungen wurden an die Tafel gezeichnet, Zylinderhüte und Helme, mit Spitze und ohne, und lustige Frauenhüte. Die Eidechse wurde in das leere Aquarium gesetzt, wo sie alsbald verendete.
Matthias trug stets einen Satz Fragekarten bei sich. Die hielt er in der Pause den Umstehenden unter die Nase:«Wie heißt die Hauptstadt von Frankreich?»«An welchem Fluß liegt Bremen?»- So mancher ging dann fort, der wollte in der Pause seine Ruhe haben. Matthias hatte auch englische Vokabelkarten bei sich. Daß«green»«grün»bedeutet. Es machte den Kindern Spaß, daß sie in der Schule nicht nur Hochdeutsch, sondern auch ein bißchen Englisch lernten, das war etwas Besonderes. Und die Eltern erzählten es rum, daß der Lehrer zwar nicht rechnen kann, aber«die Kinder Englisch lernt»- und das machte die Runde im Landkreis. Der Schulrat, der es nicht duldete, daß einer vorprescht, rief eines Tages an, ob Matthias das auch verantworten kann, so früh mit Englisch zu beginnen, und daß er ja wohl mächtig viel Zeit hat? Und was soll die weiterführende Schule sagen, wenn die Kinder schon alles können?
Also: erst mal so weitermachen, aber um Gottes willen behutsam, und Ende des Jahres einen Bericht darüber schreiben.
«Chacun, wie ich immer sage, nach seinem Geschmack.»
Wenn er da so saß, die Kleinen um sich herum, dachte er: Das hier ist meine Pädagogik: die Kinder laufen lassen und ihnen zuhören. Ihm kam es so vor, als ob sie alle schon fertige Menschen seien, an denen nichts mehr zu erziehen ist. Der zukünftige Bürgermeister stand vor ihm und die zukünftige Gastwirtin. Das Gute ermutigen und, wenn sie böse sind, sagen: Das
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