Heilige Mörderin: Roman (German Edition)
als mein Mann noch lebte, hatte er sich von einem Bekannten Rattengift besorgen lassen. Wir haben es im Schuppen aufbewahrt.«
»Sie sind ganz sicher, dass Junko es genommen hat?«
Yoko nickte. »Als die Polizei danach fragte, habe ich nachgesehen. Die Tüte mit dem Gift war verschwunden. Da wusste ich, dass Junko deshalb nach Hause gekommen war.«
Utsumi war so verblüfft, dass sie vergessen hatte, sich Notizen zu machen.
»Ich konnte einfach niemandem sagen, dass ich nicht einmal bemerkt habe, dass meine Tochter sich umbringen wollte. Und dass sie das Gift aus unserem Haus hatte. Deshalb habe ich gelogen. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen damit solche Schwierigkeiten bereite. Könnte ich mich vielleicht irgendwo offiziell entschuldigen?« Yoko verneigte sich immer wieder.
»Könnte ich diesen Schuppen einmal sehen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich bitte darum«, sagte Utsumi und stand auf.
Der Schuppen befand sich in einer Ecke hinter dem Haus. Es handelte sich um eine einfache, etwa drei Quadratmeter große Blechhütte. Alte Möbel, Elektrogeräte und ein paar Pappkartons wurden darin aufbewahrt. Als die beiden Frauen ihn betraten, wehte ihnen ein leicht staubiger Geruch entgegen.
»Wo war die Arsensäure?«, fragte Utsumi.
»Dort.« Yoko deutete auf eine leere Büchse in einem verstaubten Regal. »Darin war die Tüte mit dem Rattengift.«
»Welche Menge hat Junko ungefähr genommen?«
»Die ganze Tüte war verschwunden. Also vielleicht so viel.« Yoko zeigte es mit beiden Händen.
»Das ist ziemlich viel«, sagte Utsumi.
»Ja, eine ganze Reisschale voll.«
»So viel braucht man nicht, um Selbstmord zu begehen. Im Protokoll steht nichts von einer so großen Menge Arsensäure am Tatort.«
Yoko sah sie ratlos an. »Ja, ich habe mich auch gewundert. Aber ich dachte, Junko hat den Rest vielleicht weggeworfen.«
Unvorstellbar, dass eine Selbstmörderin überschüssiges Gift beseitigte.
»Kommen Sie häufiger in diesen Schuppen?«
»Nein, jetzt kaum noch. Ich habe ihn schon lange nicht mehr geöffnet.«
»Ist er abschließbar?«
»Ja, es gibt einen Schlüssel.«
»Würden Sie ihn jetzt bitte abschließen? Wir müssten ihn vielleicht in einigen Tagen noch einmal anschauen.«
Yokos Augen weiteten sich. »Den Schuppen?«
»Ja, wenn es möglich wäre.«
Utsumi verspürte eine gewisse Erregung. Wenn sich herausstellte, dass die Arsensäure, mit der Mashiba vergiftet worden war, von hier stammte, konnte der Fall eine völlig andere Wendung nehmen.
Sie konnten nur hoffen, dass im Schuppen noch Spuren des Giftes zu finden waren. Sobald sie wieder in Tokio war, würde sie mit Mamiya sprechen.
»Übrigens haben Sie doch einen Brief von Junko bekommen. Mit der Post, nicht wahr?«
»Ja.«
»Würden Sie ihn mir zeigen?«
Nach kurzer Überlegung nickte Frau Tsukui.
Sie gingen wieder ins Haus. Dieses Mal wurde Utsumi in Junkos Zimmer geführt. Es war ein etwa zwölf Quadratmeter großer, westlich eingerichteter Raum mit einem Schreibtisch und einem Bett.
»Ich habe alle ihre Sachen aufgehoben.« Yoko Tsukui öffnete eine Schreibtischschublade und nahm einen Umschlag heraus.
»Das ist er.«
Der Inhalt des Briefes entsprach dem, was Kusanagi ihr erzählt hatte. Er enthielt keinerlei konkrete Hinweise auf das Motiv für Junkos Selbstmord.
»Ich frage mich immer wieder, ob ich ihr nicht hätte helfen können. Wäre ich nicht so unaufmerksam gewesen, hätte ich ihren Kummer doch bemerkt.« Yoko Tsukuis Stimme zitterte.
Utsumi fiel keine passende Antwort ein, und sie wollte den Brief eben wieder in die Schublade legen, in der noch mehrere andere Umschläge lagen.
»Was ist das?«
»Briefe von ihr. Ich kenne mich mit E-Mails nicht aus, also haben wir uns Briefe geschrieben.«
»Darf ich sie mir ansehen?«
»Ja, bitte. Ich mache inzwischen frischen Tee.« Yoko verließ das Zimmer.
Utsumi zog sich einen Stuhl heran. Der Inhalt der Briefe beschränkte sich im Großen und Ganzen auf die Bilderbücher, an denen Junko arbeitete, und auf ihre beruflichen Pläne. Über die An- oder Abwesenheit eines Geliebten oder zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen war nichts daraus zu erfahren.
Utsumi wollte gerade aufgeben, als ihr Blick auf eine Postkarte mit einem roten Doppeldeckerbus fiel. Als Utsumi die mit blauem Kugelschreiber geschriebenen Zeilen las, stockte sie:
»Wie geht es Euch? Ich bin gerade in London, wo ich mich mit einem anderen japanischen Mädchen angefreundet habe. Sie ist eine
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