Heiliger Zorn
Begegnung hatte er sich in hellere und breitere Züge sleeven lassen. Eine zerzauste blonde Mähne mit Spuren von Grau. Wangenknochen, die mindestens genauso viel seinem slawischen Erbe wie seiner Vorliebe für den Adoracion-Look zu verdanken hatten. Aber der Körper unterschied sich kaum – unter dem weiten Overall zeichnete sich die gleiche Höhe und Schlankheit von Brust und Schultern ab, die sich verjüngende Hüft- und Beinpartie, die großen Hände. Und seine Bewegungen hatten immer noch die gleiche lässige Anmut.
Ich erkannte ihn so zweifellos, als hätte er den Overall geöffnet, um mir die Narben auf der Brust zu zeigen.
»Ich habe gehört, dass Sie nach mir suchen«, sagte er sanft. »Kenne ich Sie?«
Ich grinste.
»Hallo Jack. Wie geht’s Virginia?«
24
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du es bist, Junge.«
Sie saß neben mir am Hang einer Düne und zeichnete mit einem Flaschenrückenstock Dreiecke in den Sand zwischen ihren Füßen. Sie war immer noch nass vom Schwimmen, Wasser perlte auf der sonnengedunkelten Haut überall auf dem Surfer-Sleeve, schwarzes Stoppelhaar stand spitz, feucht und ungleichmäßig von ihrem Kopf ab. Das elfenhafte Gesicht war sehr gewöhnungsbedürftig. Sie war mindestens zehn Jahre jünger als bei unserer letzten Begegnung. Andererseits hatte sie wahrscheinlich dasselbe Problem mit mir. Sie starrte in den Sand, während sie sprach, die Gesichtszüge unentzifferbar. Sie sprach zögernd, genauso wie sie mich am Morgen im Gästezimmer geweckt und gefragt hatte, ob ich mit ihr zum Strand runtergehen wollte. Sie hatte die ganze Nacht gehabt, um ihre Überraschung zu überwinden, aber sie warf mir immer noch verstohlene Blicke zu, als wären sie eigentlich nicht erlaubt.
Ich zuckte die Achseln.
»Ich spiele die glaubwürdigere Rolle, Virginia. Ich bin nicht derjenige, der von den Toten zurückgekehrt ist. Und nenn mich nicht ›Junge‹.«
Sie lächelte ein wenig. »Irgendwann sind wir alle von den Toten zurückgekehrt, Tak. Das ist unser Berufsrisiko, oder hast du das schon vergessen?«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Ja.« Sie wandte den Blick ab und sah eine Weile auf den Strand, wo der Sonnenaufgang noch ein verschwommenes rötliches Gerücht im frühen Morgennebel war. »Du glaubst ihr also?«
»Dass sie Quell ist?« Ich seufzte und schöpfte eine Hand voll Sand. Beobachtete, wie er zwischen meinen Fingern und an den Seiten der Handfläche hinunterrieselte. »Ich glaube, dass sie glaubt, dass sie es ist.«
Virginia Vidaura gestikulierte ungeduldig. »Ich bin schon Linkies begegnet, die sich für Konrad Harlan gehalten haben. Das habe ich dich nicht gefragt.«
»Ich weiß, was du mich gefragt hast, Virginia.«
»Dann setz dich mit der verdammten Frage auseinander«, sagte sie, ohne sich zu echauffieren. »Hast du beim Corps überhaupt nichts von mir gelernt?«
»Ist sie Quell?« Die Restfeuchtigkeit nach dem Schwimmen ließ etwas Sand zwischen meinen Fingern kleben. Ich rieb energisch die Hände aneinander. »Es kann einfach nicht stimmen. Quell ist tot. Atomisiert. Es spielt keine Rolle, was sich deine Kumpel im Haus in ihren politischen Feuchtträumen wünschen.«
Sie blickte über die Schulter, als würde sie befürchten, dass sie mithörten. Dass sie aufwachten, sich streckten und gähnten und zu uns zum Strand herunterkamen, ausgeruht und bereit, meinen Mangel an Respekt gewaltsam abzustrafen.
»Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der vielleicht sogar du es dir gewünscht hättest, Tak. Dass sie zurückkehrt. Was ist mit dir passiert?«
»Sanction IV ist mit mir passiert.«
»Ach ja. Sanction IV. Die Revolution forderte wohl etwas mehr Einsatz als erwartet, was?«
»Du warst nicht dabei.«
Eine kleine Stille öffnete sich hinter den Worten. Sie schaute weg. Brasils kleine Gang zählte nominell zu den Quellisten – oder zumindest zu den Neoquellisten –, aber Virginia Vidaura war unter ihnen die Einzige mit Envoy-Konditionierung. Ihr war die Fähigkeit zur willentlichen Selbsttäuschung ausgebrannt worden, auf eine Weise, die keine problemlose emotionale Anbindung an eine Legende oder ein Dogma mehr zuließ. Sie musste, überlegte ich, eine Meinung haben, die sich anzuhören lohnte. Sie musste eine Perspektive haben.
Ich wartete. Hier unten am Strand war das Brechen der Wellen ein ständiger, langsamer und erwartungsvoller Hintergrundrhythmus.
»Tut mir Leid«, sagte sie schließlich.
»Ist auch egal. Jedem von uns
Weitere Kostenlose Bücher