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Heiliger Zorn

Heiliger Zorn

Titel: Heiliger Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
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Monde. In manchen Gegenden von Vchira kann man über mehrere Kilometer auf derselben Welle reiten, und die Höhe der Dinger, die einige von diesen Typen erklimmen, muss man sehen, um es zu glauben. Aber die niedrige Schwerkraft und der trilunare Gezeitensog hat keine Kehrseite, denn in den Ozeanen auf Harlans Welt haben sich Strömungssysteme entwickelt, die auf der Erde unmöglich wären. Die chemische Zusammensetzung, die Temperatur und das Strömungsverhalten variieren in beängstigendem Ausmaß, und das Meer stellt ohne große Vorwarnzeit gemeine und gnadenlose Dinge an. Die Turbulenztheoretiker mühen sich immer noch damit ab, manches zu verstehen, um es endlich in ihre modellierten Simulationen einbauen zu können. Auf Vchira Beach werden ganz andere Forschungen durchgeführt. Mehr als einmal habe ich den Young-Effekt in perfekter Ausformung an einer scheinbar stabilen Neun-Meter-Wand beobachtet, wie ein prometheischer Mythos im Schnelldurchlauf. Die tadellose Aufwölbung des Wassers wird plötzlich verwirbelt und bricht wie betrunken unter dem Wellenreiter zusammen, dann wird sie auseinander gesprengt, als hätte man sie mit Artillerie unter Beschuss genommen. Das Meer öffnet seinen Rachen, verschluckt das Brett und den Reiter. Ich habe ein paarmal dabei geholfen, Überlebende aus der Brandung zu zerren. Ich habe ihr glasiges Grinsen gesehen, das Leuchten in ihren Gesichtern, wenn sie Dinge sagen wie Ich hätte nicht gedacht, dass mich diese Mutter irgendwann wieder loslassen würde oder Mann, hast du gesehen, wie die Scheiße abging? Aber am häufigsten hörte man die dringende Frage Hast du es geschafft, mein Brett zu retten, sam? Ichhabe gesehen, wie sie wieder ins Wasser gingen, zumindest diejenigen, die sich nichts ausgerenkt oder gebrochen oder den Schädel zertrümmert hatten, und ich habe den nagenden Drang in den Augen der Leute gesehen, die warten mussten, bis sie wieder gesund waren.
    Ich kenne das Gefühl ziemlich gut. Nur dass ich es mit meinem Bedürfnis assoziiere, andere Leute zu töten.
    »Wieso wir?«, fragte Mari Ado mit hemmungslosem Mangel an Manieren, den sie offenbar glaubte, sich aufgrund ihres nicht-harlanitischen Namens erlauben zu können.
    Ich grinste und zuckte die Achseln.
    »Mir ist sonst niemand eingefallen, der blöd genug wäre.«
    Sie tat auf katzenhafte Weise beleidigt, hob ebenfalls rollend eine Schulter und wandte mir den Rücken zu, als sie zur Kaffeemaschine unter dem Fenster ging. Es schien, als hätte sie für einen Klon ihres letzten Sleeves optiert, aber sie hatte eine Unruhe in sich, die bis in die Knochen ging und an die ich mich aus der Zeit vor vierzig Jahren nicht erinnerte. Außerdem sah sie magerer aus, die Augen lagen in tiefen Höhlen, und sie hatte ihr Haar zu einem abgehackten Pferdeschwanz zurückgezogen, der ihre Züge viel zu straff gespannt erscheinen ließ. Ihr maßgeschneidertes Adoracion-Gesicht hatte genau die passende Knochenstruktur, dadurch wirkten die gebogene Nase noch adlerhafter, die dunklen flüssigen Augen noch dunkler und der Kiefer noch willensstärker. Aber trotzdem sah sie damit nicht besser aus.
    »Ich glaube, du hast echt verdammte Nerven, Kovacs. Nach Sanction IV einfach so hierher zurückzukommen.«
    Virginia, die mir am Tisch gegenübersaß, zuckte. Ich schüttelte minimal den Kopf.
    Ado warf einen Blick zur Seite. »Meinst du nicht auch, Sierra?«
    Sierra Tres entsprach ihrer Gewohnheit und sagte nichts. Auch ihr Gesicht war eine jüngere Version dessen, woran ich mich erinnerte – elegant geschnittene Züge, irgendwo zwischen einer Millsport-Japanerin und der Vorstellung des Gensalons von einer Inka-Schönheit. Ihre Miene verriet keine Regung. Sie lehnte sich gegen die blau getünchte Wand neben der Kaffeemaschine, die Arme über einem winzigen Polmetall-Top verschränkt. Wie die meisten Angehörigen des erst vor kurzem geweckten Haushalts trug sie kaum mehr als aufgesprühte Badekleidung und etwas billigen Schmuck. Eine leere Café-au-lait-Tasse hing an einem silbern beringten Finger, als hätte sie sie dort vergessen. Aber der Blick, den sie zwischen Mari und mir hin und her tanzen ließ, drückte das Bedürfnis nach einer Antwort aus.
    Rund um den Frühstückstisch regten sich die anderen mitfühlend. Mit wem, war schwer zu sagen. Ich saugte die Reaktionen mit der Vorurteilsfreiheit einer Envoy-Konditionierung auf, um sie zur späteren Auswertung abzuspeichern. Wir waren das Konstatierungsritual am vorigen Abend

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