Heiliger Zorn
rum. Es heißt, dass er weitermordet. Offenbar lässt er sich nicht aufhalten. Wenn ich wüsste, wo ich ihn finden kann, würde ich ihn aufhalten.«
Ich dachte kurz an eine Gasse, die mir zwischen den Lagerschuppen am anderen Ende des Hafenkomplexes aufgefallen war. Ich dachte daran, ihm seine Chance zu geben.
»Also kein Geld zum Resleeven? Für Ihre Eltern, meine ich.«
Er bedachte mich mit einem strengen Blick. »Sie wissen genau, dass wir so etwas nicht tun.«
»Ach so. Wie Sie bereits festgestellt haben, bin ich nicht von hier.«
»Ja, aber…« Er zögerte. Blickte sich in der Ballonkammer um und sah dann wieder mich an. Er senkte die Stimme. »Hören Sie, ich bin eigentlich nur in die Offenbarung reingerutscht. Ich unterschreibe nicht alles, was die Priester sagen, erst recht nicht heutzutage. Aber es ist eine Religion, eine Lebensweise. Sie gibt einem etwas, woran man sich festhalten kann, etwas, mit dem man seine Kinder erziehen kann.«
»Haben Sie Söhne oder Töchter?«
»Zwei Töchter, drei Söhne.« Er seufzte. »Ja, ich weiß. Die ganze Scheiße. Wissen Sie, hinter der Landspitze haben wir einen Badestrand. Die meisten Dörfer haben einen. Ich erinnere mich, wie wir als Kinder den ganzen Sommer im Wasser verbracht haben, alle zusammen. Unsere Eltern kamen manchmal nach der Arbeit dazu. Seit die Sache jetzt ernst geworden ist, haben sie dort eine Mauer mitten ins Meer gebaut. Wenn man tagsüber hingeht, stehen dort Offiziatoren herum, die die ganze Zeit aufpassen, und die Frauen müssen auf der anderen Seite der Mauer schwimmen gehen. Also darf ich nicht einmal zusammen mit meiner Frau und meinen Töchtern an den Strand gehen. Das ist völlig bescheuert. Viel zu extrem. Aber was soll man machen? Wir haben nicht das Geld, um nach Millsport zu ziehen, und ich möchte auch nicht, dass meine Kinder dort auf der Straße aufwachsen. Ich habe gesehen, wie es dort ist, als ich in der Stadt studiert habe. Sie ist voller degenerierter Perverser. In ihnen ist kein Herz mehr, nur noch geistloser Dreck. Zumindest glauben die Menschen hier noch an etwas mehr, als jedes tierische Bedürfnis zu befriedigen, sobald ihnen danach ist. Wissen Sie, ich möchte kein neues Leben in einem neuen Körper leben, wenn das alles wäre, was ich damit anstellen würde.«
»Dann können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie nicht genug Geld haben, um sich resleeven zu lassen. Es wäre eine Schande, so in Versuchung geführt zu werden, nicht wahr?«
Und eine Schande, deine Eltern wiederzusehen, fügte ich nicht hinzu.
»Völlig richtig«, sagte er. Anscheinend war ihm meine Ironie entgangen. »Das ist genau der Punkt. Wenn man verstanden hat, dass man nur ein Leben besitzt, gibt man sich viel mehr Mühe, alles richtig zu machen. Man vergisst all diese materiellen Dinge, all die Dekadenz. Man denkt an sein eigenes Leben und nicht daran, was man mit dem nächsten Körper machen könnte. Man konzentriert sich auf das Wesentliche. Familie. Gemeinschaft. Freundschaft.«
»Und natürlich die Observanz.« Die Sanftheit in meiner Stimme war seltsamerweise ungespielt. In den nächsten paar Stunden durften wir nicht auffällig werden, aber das war es gar nicht. Ich tastete neugierig in mich hinein und stellte fest, dass mir die übliche Verachtung entglitten war, die ich in solchen Fällen für gewöhnlich anbrachte. Ich sah ihn über den Tisch an, und alles, was ich empfand, war Müdigkeit. Er hatte nicht geduldet, dass Sarah und ihre Tochter gestorben waren, er war vielleicht noch gar nicht geboren gewesen, als es geschehen war. In der gleichen Situation wäre ich vielleicht dem gleichen Schafherdentrieb gefolgt wie seine Eltern, aber im Augenblick konnte ich dieser Überlegung kein Gewicht beimessen. Ich konnte ihn nicht genug hassen, um ihn in diese Gasse mitzunehmen, ihm die Wahrheit zu sagen, wer ich war, und ihm seine Chance zu geben.
»Richtig, die Observanz.« Seine Miene hellte sich auf. »Das ist der Schlüssel, das ist es, was alles andere trägt. In dieser Hinsicht hat uns die Wissenschaft verraten, sie ist uns aus den Händen geglitten, und nun können wir sie nicht mehr beherrschen. Sie hat alles viel zu einfach gemacht. Wir können nicht mehr natürlich altern, wir müssen nicht mehr sterben und uns vor unserem Schöpfer verantworten. Das hat uns für die wahren Werte blind gemacht. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, das Geld zusammenzukratzen, um uns resleeven zu können, und wir vergeuden die Realzeit, die
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