Heiliger Zorn
Tisch, das warme Gefühl der Anonymität und das Versprechen eines Tickets am nächsten Morgen – ich erinnerte mich daran, wie ich aufgestanden war und all das hinter mir gelassen hatte, wie von Sirenengesang angezogen. Und hinein ins blutige Kampfgetümmel.
Im Rückblick handelte es sich ganz offensichtlich um einen Wendepunkt, so schwer mit schicksalhaften Hinweisen beladen, dass er eigentlich in den Angeln hätte quietschen müssen, als ich diese spezielle Tür durchschritten hatte.
Aber im Rückblick macht es immer diesen Eindruck.
Ich muss zugeben, dass ich dich mag, Micky. Ihre Stimme, undeutlich von Drogen und einer durchwachten Nacht. Draußen vor den Fenstern hatte sich gerade der Morgen angeschlichen. Ich kann nicht mit dem Finger drauf zeigen, warum, aber es ist eben so. Ich mag dich.
Das ist schön.
Aber es ist nicht genug.
Ein leichtes Jucken machte sich an meinen Fingern und Handflächen bemerkbar, der genetisch einprogrammierte Wunsch nach einer rauen Oberfläche, die ich greifen und erklimmen konnte. Das hatte ich bei diesem Sleeve schon vor einer ganzen Weile bemerkt. Es kam und ging, tauchte aber vor allem dann auf, wenn ich unter Stress stand oder untätig war. Kleine Ärgernisse gehörten zum Preis der Downloads. Selbst ein frisch geklonter Sleeve hatte eine Geschichte. Ich ballte ein paarmal die Fäuste, steckte eine Hand in die Tasche und ertastete die kortikalen Stacks. Sie klapperten glatt zwischen meinen Fingern und sammelten sich mit dem makellosen Gewicht hochwertiger Maschinenteile in meiner Handfläche. Yukio Hirayasu und seine Handlanger waren inzwischen Teil der Sammlung geworden.
Während wir im Laufe des letzten Monats im manischen Suchen-und-Zerstören-Modus unsere Spur durch die Ungeräumte Zone gepflügt hatten, hatte ich Zeit gefunden, meine Trophäen mit Chemikalien und einer Schaltkreisbürste zu säubern. Als ich jetzt die Hand im Illuminumlicht öffnete, glänzten sie frei von Knochen- und Geweberückständen. Ein halbes Dutzend glänzender Metallzylinder. Wie mit einem Laser abgeschnittene Stücke von einem dünnen Schreibgerät. Ihre Perfektion wurde nur von den kleinen, hervorstechenden Mikrofilament-Anschlüssen an einem Ende gebrochen. Yukios Stack hob sich von den anderen ab – um die Mitte hatte er einen ordentlichen gelben Streifen, in den die Hardware-Codierung des Herstellers eingraviert war. Designerware. Typisch.
Die anderen Stacks waren von staatlichen Behörden eingesetzte Standardausgaben, einschließlich der des Yakuza-Handlangers. Sie waren in keiner Weise gekennzeichnet, deshalb hatte ich den des Yak sorgfältig in schwarzes Isolierband gewickelt, um ihn nicht mit denen aus der Zitadelle zu verwechseln. Ich wollte den Unterschied erkennen können. Der Mann hatte zwar keinen Verhandlungswert wie möglicherweise Yukio, aber ich sah keinen Grund, einen gewöhnlichen Kriminellen an den gleichen Ort zu verfrachten wie die Priester. Ich war mir nicht sicher, was ich sonst mit ihm anfangen sollte, aber etwas in mir hatte sich im letzten Moment dagegen gesperrt, meinem ursprünglichen Vorschlag an Sylvie nachzukommen und ihn einfach ins Andrassy-Meer zu werfen.
Ich steckte ihn und Yukio wieder ein, betrachtete die anderen vier Stacks in meiner Hand und überlegte.
Reicht das aus?
Früher einmal, auf einer anderen Welt, die um einen Stern kreiste, den man von Harlans Welt aus nicht einmal sehen konnte, hatte ich einen Mann getroffen, der davon lebte, kortikale Stacks zu verkaufen. Er kaufte und verkaufte nach Gewicht, maß das Leben im Innern wie Gewürze oder Halbedelsteine ab. Die lokale politische Lage hatte dieses Geschäft sehr profitabel gemacht. Um die Konkurrenz abzuschrecken, hatte er sich als lokale Ausgabe des personifizierten Todes inszeniert. Das war reichlich übertrieben gewesen, aber irgendwie war es bei mir hängen geblieben.
Ich fragte mich, was er denken würde, wenn er mich in diesem Moment gesehen hätte.
Ist das…
Eine Hand schloss sich um meinen Arm.
Der Schock fuhr wie ein Stromschlag durch meinen Körper. Ich schloss die Hand ruckartig um die Stacks. Starrte die Frau vor mir an, die sich im Schlafsack auf einen Ellbogen aufgerichtet hatte und verzweifelt mit ihren Gesichtsmuskeln kämpfte. Ihre Augen zeigten kein Anzeichen des Wiedererkennens. Ihr Griff um meinen Arm war wie der einer Maschine.
»Du«, sagte sie auf Japanisch und hustete. »Hilf mir. Hilf mir!«
Es war nicht ihre Stimme.
11
Als wir die Hügel
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