Heiliges Feuer
künstlicher Haarwuchs, Hauttransplantate. Blutfilterung. Synthetische Lymphe. Zu neuem Wachstum angeregte Nerven und Muskeln. Beschleunigte Zellteilung. Intrazelluläre antioxidative Enzymierung; verjüngende Hexengebräus, bestehend aus Arginin, Ornithin und Cystein, Glutathion und Katalase. Villi-Laminierung des Darmtrakts (VLD). Affektive circadianische Anpassung (ACA). Künstliches Knochenwachstum. Keramische Gelenkprothesen. Gezielt eingesetztes Aminogluanidin. Gezielt eingesetztes Dehydroepiandrosteron. Autoimmune Reprogrammierung (AR). Arteriosklerotische mikrobiologische Ausschabung (AMA). Neuronale dissipative Defibrillation (NDD). Kinetischmetabolische Breitbandbeschleunigung (KMBB). Das waren veraltete Techniken. Längst hatte die Medizin sich höhere Ziele gesteckt.
Ein Bronzegong ertönte. Die dreihundert Gäste erhoben sich einmütig von ihren Plätzen, gingen, humpelten, schlurften oder rollten davon und spielten wohlgeordnet Bäumchen-wechsle-dich. Anschließend fanden sich alle in der intimen Gesellschaft neuer Freunde wieder, die einander mit spontanem Entzücken begrüßten. Eifrige Roboter servierten frische Getränke und die Vorspeise.
Josefs neue Tischgenossen - offenbar kannte er sie gut, oder aber sie hatten ihre Biographien an seine Brille übermittelt - sprachen deutsch. Maya hatte ihren Übersetzer auf Tschechisch und Italienisch eingestellt. Sie hätte gern das kleine Diamantei für Deutsch eingesetzt, doch wenn sie sich am Collier zu schaffen machte, verweigerte es neuerdings unweigerlich die Arbeit und beklagte sich darüber, wie viel sie der Firma schuldete.
Sie schämte sich wegen ihres Colliers. Die billige Goldkette und die Diamanten funkelten in ihrem Decollete wie radioaktiver Abfall. Und so schwieg sie, ohne dass ihre Zurückhaltung aufgefallen wäre. Sie war jung. Sie hatte nichts Interessantes zu sagen.
Die Roboter räumten die Suppenteller ab, worauf erneut die Plätze getauscht wurden. Als Nächstes wurden höchst appetitlich anzusehende, äußerst fade und leicht verdauliche Cannelloni serviert. Einige Gäste verspeisten sie, während andere sie mit Nichtbeachtung straften. Dann wechselte man erneut die Tische, worauf hübsch geformte und ziemlich geschmacklose kleine Gnocchi aufgetragen wurde. Dann gab es geriffelte gelbe Keile geruchloser Käsemasse. Anschließend eine in Kegelform gegossene Süßspeise. Das ganze Mahl war äußerst kunstvoll angerichtet, ohne die Zähne zu beanspruchen.
Nun begab sich die Gästeschar zu der in düsterer Pracht gehaltenen Präsentationsabteilung des Kio. Da und dort hatte man an den Wänden Vitrinen aufgestellt, sehr gewagte Vitrinen, die beinahe den Eindruck von Werbung machten. Dieser Regelverstoß von Vietti war reines Imponiergehabe, denn marktschreierische Kommerzialität war bei der Haute Couture fehl am Platz. Wahre Haute Couture, die Suche nach der wahrhaft exquisiten Kleidung, erforderte vor allem Geduld. Und über Geduld verfügte die heutige Glitzerwelt im Übermaß. Mode war ein Spiel, bei dem es um Prestige ging, und das Geld dafür stammte teilweise von den Reichen und vor allem aus Viettis Lizenzgeschäften: Cyberbrillen, Düfte, Badezubehör, Privatbäder, medizinische Kosmetik. Ein Arsenal intellektuellen Eigentums für einen Couturier, der weniger Kleider entwarf als vielmehr eine Lebensweise.
Hier fanden die glücklichen Anwesenden, deren Knochen von den asketischen Stühlen schmerzten, endlich bequeme Sessel vor. In Reihen geordnet wie in einer Kirche bildeten sich miteinander wetteifernde Untergruppen. Verschiedene indonesische, japanische und amerikanische Politiker nahmen die vorderen Reihen in Beschlag, dazu entschlossen, einander zu beeindrucken. Hinter ihnen kamen die Netz-Designer, Geschäftsleute, Fotografen, Schauspieler und Schauspielerinnen, Geschäfts- und Salonmillionäre, Männer und Frauen von Welt.
Für alle reichten die Sitzgelegenheiten nicht aus: ein absichtliches und kaum überraschendes Versehen. Novak geleitete Maya durch eine wogende Menge von Angehörigen der oberen Zehntausend, Nachwuchsdesignern und kleineren Berühmtheiten hinter die Bühne.
Dort wimmelte es von europäischen Störchen, afrikanischen Sekretärvögeln und amerikanischen Kranichen. All diese großen Vögel mit dem feierlichen Gefieder warteten mit eindrucksvoller Würde auf ihren Auftritt und gingen den ängstlichen Menschen aus dem Weg.
Der sagenumwobene Couturier stand im Mittelpunkt einer lärmenden, hochmotivierten
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