Heiliges Feuer
sie darauf erwidern sollte, legte sie auf.
»Damit hat er mich wirklich verletzt«, sagte sie zu Benedetta und brach in Tränen aus.
»Du solltest den alten Narren verlassen«, meinte Benedetta und steckte sich noch einen Happen in den Mund. »Du solltest mit mir nach Bologna kommen. Noch heute Nacht. Wir kriegen bestimmt noch einen Zug. Bologna ist die schönste Stadt Europas. Dort gibt es Kolonnaden, Kommunarden und Miniluftschiffe. Du solltest dir unbedingt mal die Arkaden ansehen, die sind wunderschön. Außerdem schmieden wir in Bologna wundervolle Pläne. Komm mit uns zum Instituto di Estetica. Du kannst uns bei der Arbeit zuschauen.«
»Darf ich euch dabei fotografieren?«
»Tja ...«
»Ich fotografiere so schlecht«, klagte Maya. »Josef Novak macht keine schlechten Fotos. Manchmal sind sie toll. Manchmal sind sie bloß merkwürdig, aber daneben geht bei ihm keins. Niemals, er macht einfach keine Fehler. Und bei mir klappt es einfach nicht. Nicht, dass meine Technik schlecht wäre. Die Technik lässt sich erlernen, aber ich kann immer noch nicht sehen.«
Benedetta nippte an ihrem Aufguss.
»Es fehlt mir an der Persönlichkeit, die sehen könnte, Benedetta. Ich kann schön sein, weil es ohne Eigentümlichkeiten der Proportionen mit der Schönheit nicht weit her ist, und ich bin durch und durch eigentümlich. Aber schön sein allein hilft mir nicht weiter. Ich bin nicht eins mit mir. Ich bestehe aus Fragmenten, und allmählich glaube ich, dass ich immer fragmentarisch bleiben werde. In meinem Innern bin ich ein zerbrochener Spiegel, und deshalb sind meine künstlerischen Arbeiten auch stets entstellt. Die Kunst ist beschwerlich, und das Leben ist nicht mehr kurz.« Maya schlug die Hände vors Gesicht.
»Du bist eine gute Freundin, Maya. Ich habe nicht viele wahre Freunde, aber du bist eine richtige Freundin. Das Alter ist längst nicht so wichtig, wie du glauben magst. Die Bedeutung des Alters liegt auf anderem Gebiet. Bitte sei nicht traurig.«
Benedetta wühlte in ihren Jackentaschen. »Ich habe dir ein Geschenk aus Bologna mitgebracht. Zur Feier des Tages. Weil wir jetzt richtige Schwestern sind.«
Maya sah auf. »Ach, ja?«
Benedetta holte eine Muschel mit Saugfuß aus der Tasche.
Maya machte große Augen. »Ich glaube, da sollte ich besser die Finger von lassen.«
»Weißt du, was eine Zerebraldekantierung ist?«
»Leider ja.«
»Das ist für dich, Maya. Darf ich es dir auf den Kopf setzen?«
»Benedetta, ich glaube, das sollte ich nicht tun. Du weißt, dass ich nicht mehr jung bin. Das könnte schwerwiegende Folgen haben.«
»Natürlich hat es Folgen. Ich habe ein Jahr gebraucht, um mich von der Dekantierung zu erholen. Ich hatte ständig Schmerzen. Immer wenn sich bei mir ein bestimmtes Gefühl einstellte - wenn ich ganz bei mir war ... habe ich mir dieses Ding auf den Kopf gesetzt. Es hat mich ausgesaugt und gespeichert. Ich wollte es für den Fall aufbewahren, dass ich mich verliere. Jetzt aber möchte ich es dir schenken. Ich möchte, dass du weißt, wer ich bin.«
Maya seufzte. »Leben bedeutet Risiko.« Sie nahm die Perücke ab.
Die Muschel bohrte sich durch ihren Hinterkopf. Es tat ziemlich weh, und das war gut so, denn ansonsten wäre es zu einfach gewesen. Flüssigkeiten diffundierten, und Maya wurde ganz ruhig und empfand eine unnatürliche Klarheit.
Sie spürte die geistige Anwesenheit einer anderen Frau. Nicht deren Gedanken. Ihr Leben. Das süße Geheimnis menschlicher Identität. Einsamkeit und ein wenig Bitterkeit und ein helles Plateau jugendlicher Selbstsicherheit. Den unheimlichen Glanz einer anderen Seele.
Sie schloss die Augen. Sie fühlte eine tiefe posthumane Verzückung. Die Erkenntnis stahl sich in ihr Bewusstsein wie das schwarze Licht einer anderen Welt. Und dann verleibten sich die grauen Zellen allmählich die andere Persönlichkeit ein. Saugten sie gierig in zahllose kleine Höhlungen.
Als sie wieder zu sich kam, saß die Muschel nicht mehr auf ihrem Kopf. Sie lag flach auf dem Boden, und Benedetta wischte ihr behutsam das Gesicht mit einem feuchten Handtuch ab. »Kannst du sprechen?«, fragte Benedetta.
Maya bewegte Lippen und Zunge, »ja, ich glaub schon.«
»Weißt du, wer du bist?«, fragte Benedetta besorgt. »Sag es mir.«
»Das war etwas wahrhaft Heiliges«, sagte Maya. »Das war göttlich. Du musst das an einem besonderen Ort verstecken. Damit niemand es berührt oder besudelt. Es wäre furchtbar und entsetzlich, wenn jemals jemand daran
Weitere Kostenlose Bücher