Heiliges Feuer
Ich war verheiratet, ich hatte ein Kind. In meiner Jugend sind viele Menschen an Geschlechtskrankheiten gestorben. In dieser Hinsicht war ich immer sehr vorsichtig.«
»Aber damals hatten Sie Jahre Zeit, die Pubertät zu verarbeiten. Ihr limbisches und hormonales System wurde nicht von einem Moment zum anderen einer Generalüberholung unterzogen. Wir erneuern Ihr Gehirn, und der Großteil des Gehirns denkt und argumentiert nicht. Das menschliche Gehirn ist eine Drüse, kein Computer.«
Dr. Rosenfeld trommelte mit den makellosen Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Die Menschen leben nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung. Die Menschen stehen morgens nicht aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse aus dem Bett auf. Die Menschen schlafen nicht deshalb miteinander, weil sie aufgrund einer logischen Beweiskette zu diesem Entschluss gelangt sind. Sexualität ist ein Aspekt des Lebens, den man nicht mittels eines Willensaktes unterbinden kann. Sie werden eine vierundneunzigjährige Frau sein, die in der Lage ist, wie ein zwanzigjähriges Mädchen auszusehen, zu handeln und zu empfinden. Dabei wird es selbstverständlich zu Komplikationen kommen.«
»Könnte ich nicht einfach Libidorepressoren einnehmen?«
»Das wäre eine Möglichkeit. Libidorepressoren sind im Moment sehr beliebt, doch ich würde von ihrem Gebrauch abraten. Hormone sind bei der körperlichen Entwicklung von großer Bedeutung. Junge Menschen haben viele Hormone, weil sie diese Hormone brauchen, und auch Sie brauchen die Hormone, damit sich das frische Hirngewebe richtig entwickeln kann. Ich als Arzt rate Ihnen, die damit einhergehenden Probleme in Kauf zu nehmen. Betrachten Sie sie als Wachstumsschmerzen.«
Mia lächelte. »Wollen Sie mir raten, mir Liebhaber zu nehmen?«
»Mia ...« Er legte ungeduldig die Handflächen zusammen. »Selbst wenn Sie Liebhaber finden sollten, was in Ihrer Lage gar nicht so einfach sein dürfte, dann würde Ihnen das auch nicht weiterhelfen. Das ist ein schwieriges Thema. Unsere Patienten sind ältere Menschen, sie waren verheiratet, sie hatten Kinder. Sie wollen nicht wieder anfangen, zu flirten und zu werben. Sie wollen sich keinem Lebenspartner anvertrauen oder neue Familien gründen. Diesen Aspekt menschlicher Erfahrung haben sie bereits durchlaufen, sie haben dadurch dazugelernt und ihn hinter sich gelassen. Das heißt nicht, dass sie unfähig wären, andere Menschen zu lieben, aber sie haben einen Zustand hoher Reife und posthumaner Selbstverwirklichung erlangt. Es entspricht ihnen einfach nicht mehr, eine hingebungsvolle, leidenschaftliche sexuelle Beziehung einzugehen. Gleichwohl ist der Geschlechtstrieb nach der Behandlung sehr stark. Unsere Patienten finden dies verstörend. Es ist entwürdigend und schwer zu integrieren.«
»Wie ich sehe, nehmen Sie das Problem sehr ernst, Doktor.«
»So ist es. Die NTDZ ist eine bedeutsame technische Neuerung. Ich sage das nicht bloß deshalb, weil ich an der Entwicklung beteiligt war. Die Erfahrungen mit den ersten NTDZ-Patienten sind für Gesellschaft und Politas von allerhöchstem Interesse. Bitte schauen Sie sich das einmal an.«
Dr. Rosenfeld klappte das Notebook auf und drehte es herum, sodass sie den Bildschirm sehen konnte.
Ein Video wurde abgespielt. Ein nackter Jüngling tauchte auf. Von Kopf bis Fuß war er anscheinend mit billigem Schmuck herausgeputzt. Mit einer Plastikkrone. Ohrringen. Falschen Augenwimpern. Einer kleinen, festgeklebten Brustplatte. Armbinden. Armspangen. Zehn gleichartigen Fingerringen. Einem Dutzend Klebepflastern auf Brust, Lenden und Schenkeln. Mit Knieschützern, Fußspangen und funkelnden kleinen Zehenringen. Sein Haar war sehr kurz geschnitten. Er tappte unbeholfen in einer Wohnung umher und streichelte währenddessen eine schwarze Katze.
»Das sind Bewegungsdetektoren«, sagte Mia.
»Ja. Außerdem werden der Hautwiderstand, die Hirnströme und die Basaltemperaturen gemessen, sowie Stuhl- und Urinproben genommen. Zweimal wöchentlich kommen umfassende Labortests hinzu.«
»So viele Bewegungsdetektoren an einem Menschen habe ich noch nie gesehen. Als ob er sich im virtuellen Raum bewegen würde.«
»Ja, so in etwa. Die Muskelkoordination ist einer der kritischen Faktoren bei der Rekonvaleszenz. Wir benötigen ständig vollständige und exakte Daten über die Positionierung der Gliedmaßen. Für den Fall, dass Zittern, Krämpfe oder Lähmungserscheinungen auftreten ... Zumal nachts, denn Schlafstörungen sind häufig zu
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