Heiliges Feuer
harte Ringe, und sie hatte etwas Lästiges, Enges um den Kopf, aber man zwang sie, es anzubehalten. Die ersten beiden Tage verbrachte sie größtenteils damit, die Fäuste zu ballen, die Finger vor die Augen zu heben, sich langsam und genussvoll übers Gesicht zu streicheln und bisweilen an den Fingern und den kalten, glatten Ringen zu lecken.
Sie aß, was man ihr gab, denn wenn sie nicht aß, schimpfte man mit ihr.
Sie konnte nicht mehr lesen.
Als sie am dritten Tag erwachte, verspürte sie eine ungewohnte Klarheit und stellte fest, dass sich die kleinen, eckigen Zeichen wieder zu Buchstaben und Worten fügten. Sie klappte ihr Notebook auf und betrachtete die Eintragungen mit tiefem Erstaunen. Es war vollgestopft mit abstrusem, vollkommen lächerlichem ökonomischem und bürokratischem Blödsinn. Den Tag über brach sie immer wieder in schallendes Gelächter aus, strampelte, betrachtete den Bildschirm und kratzte sich die juckende Kopfhaut.
Nachmittags erhob sie sich rastlos aus dem Bett und tappte im Krankenzimmer umher. Sie gab dem Hamster Futter und frisches Wasser, doch der schlief die ganze Zeit und lag reglos und rosig und nur ganz leicht bepelzt herum. Eine der Krankenschwestern erkundigte sich, ob sie dem Hamster bereits einen Namen gegeben habe. Ihr fiel kein Name ein, der unter den gegebenen Umständen gepasst hätte, daher verzichtete sie darauf, den Hamster zu taufen.
Am Abend rief ihre Tochter aus Djakarta an, Mia aber wollte niemanden aus Djakarta sprechen. Sie bat die Schwestern, ihrer Tochter auszurichten, es gehe ihr gut. Den restlichen Abend über war sie wortkarg und passiv. Sie hatte bemerkt, dass das Zimmer mit Geräten vollgestopft war, die sie beobachteten, und manche der Geräte waren so raffiniert, dass sie praktisch unsichtbar waren.
Am vierten Tag gab man ihr andere Nahrung, die sie kauen musste, und auch ein paar köstlich süße Sachen. Sie bat um mehr und schmollte, als man ihr nichts mehr geben wollte. Dann kleidete man sie in einen sehr hübschen blauen Overall mit doppelten Nähten und brachte sie in einen Raum, der als Kinderzimmer bezeichnet wurde. Doch es waren keine Kinder da, daher hatte sie es ganz für sich allein, und es war ein hübsches Zimmer. Die Farben waren freundlich und die Beleuchtung so klar und frisch wie Sonnenschein im Sommer, und es gab Klettergeräte darin und eine Schaukel. Sie kletterte und schaukelte und ließ sich auf den gepolsterten Boden fallen, bis sie sich in einen Lachanfall hineinsteigerte und ihr ein Malheur passierte. Daraufhin musste sie das Spiel unterbrechen und sich waschen.
Anschließend ging sie wieder auf ihr Zimmer und sah sich auf dem Notebook ein paar politische Nachrichten an. Sie führte mit Dr. Rosenfeld ein langes, intensives Gespräch über die Politik während der globalen Krise in den dreißiger Jahren, und als sie sich vorstellte, was damals geschehen war, regte sie sich so auf, dass sie laut hätte schreien können. Sie ließ sich ausführlich über die ihr meistverhassten Politiker und Themen der Dreißiger aus und redete sich eine Menge Groll von der Seele. Dr. Rosenfeld meinte, sie mache sich sehr gut. Er erkundigte sich, ob sie dem Hamster bereits einen Namen gegeben habe. Sie verstand nicht, weshalb man ein solches Aufhebens darum machte. Sie mochte den Hamster nicht besonders.
Am fünften Tag machte man sie mit einer weiteren NTDZ-Patientin namens Juliet Ramachandran bekannt, einer reizenden jungen Frau, die hundertdreizehn Jahre alt war. Juliet war vor der Behandlung aufgrund einer Netzhautverkümmerung blind gewesen und hatte einen postcaninen Sehhund dabei, der sprechen konnte. Mrs. Ramachandran war viele Jahre lang im Sozialdienst tätig gewesen und hatte sehr gepflegte Umgangsformen. Mia, Juliet und der Hund verstanden sich ausgezeichnet und unterhielten sich ausführlich über die Behandlung und andere Dinge. Dem Hund war das Fell bereits nachgewachsen, während Juliet einen hübschen Seidenturban trug. Der Hund war ein rechtes Plappermaul, doch Juliet meinte, er werde diese Phase bald überwunden haben.
Juliet wiederholte ständig: »Mia Ziemann.« Das brachte sie zum Lachen.
»Wussten Sie, dass Sie Mia Ziemann heißen?«
Mia stellte fest, dass Juliet in Aufregung geriet. »Schon gut, wie Sie wollen, Miasmamann, Miasmamann, reiten Sie nicht drauf rum.« Das Leben war nicht leicht für Juliet, jetzt, da sie wieder sehen konnte. Juliet sprach sehr freimütig über ihre Probleme und redete ständig über das
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