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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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aus lackiertem Karton. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Sie spürte, wie sie inwendig wuchs. Ihr Ich fühlte sich so groß und frei an. Größer als ihr Körper. Ihr Ich war größer als die ganze Wohnung. In der Stille und Einsamkeit der Wohnung spürte sie, wie ihr Ich lautlos gegen die Fensterscheiben drückte.
    Sie sprang rastlos hoch und legte ein Stück aus Mias Musikvorrat auf. Es handelte sich um diese grässliche Hintergrundmusik, die heute so beliebt war, eine dahinplätschernde, diskrete Musik, die sich anhörte, als bestünde sie aus Staub. An den Wänden hingen scheußliche alte Kartonverpackungen. Die Vorhänge sahen aus wie abgestorben. Irgendjemand war in dieser Wohnung vertrocknet; man fühlte sich darin wie im Innern einer verschrumpelten Walnuss. Die faltige, trockene Haut einer toten Frau.
    Sie versuchte, in Mias Bett zu schlafen. Das Bett war eine hässliche Altweiberpritsche mit einem großen, scheußlichen Sauerstoffzelt. Die Matratze verfügte über spezielle Funktionen zur Unterstützung der Wirbelsäule. Sie wollte ihre Wirbelsäule nicht mehr stützen lassen, außerdem hatte sie jetzt ein ganz anderes Rückgrat. Und die Detektoren juckten und drückten gegen das Federbett. Sie ging ins Vorderzimmer hinüber, wickelte sich in eine Decke und legte sich auf den Boden.
    Der nachtaktive Hamster war mittlerweile aufgewacht und nagte heftig an den Gitterstäben des Käfigs. Nag, nag, nag. Im Dunkeln. Kratz, kratz, kratz.
    Gegen Mitternacht wurde es ihr zu viel. Sie erhob sich, zog Unterwäsche an und schlüpfte in Mias Hose. Zu kurz, die Knöchel guckten hervor. Dann legte sie einen von Mias BHs an. Ein Witz, der BH war einfach abartig. Dann einen von Mias Pullovern. Im Schrank war eine wirklich hübsche rote Jacke. Die Jacke passte großartig. Mias Schuhe drückten ein wenig. Eine Handtasche. Zu klein. Eine große Tasche. Unterwäsche in die Tasche. Lippenstift aufgelegt. Ein Kamm, eine Haarbürste, ein Rasierer. Ein Buch, um unterwegs was zum Lesen zu haben. Ein paar Socken. Rouge und Eyeliner. Eine Zahnbürste.
    Ihr Netzgerät begann durchdringend zu piepsen. Das Netzgerät hatte sie satt.
    »Ständig müssen sie einen nerven«, sagte sie zum leeren Zimmer. »Das ist nicht meine Wohnung. Das ist gar nichts. So kann ich nicht leben. Das ist kein Leben. Ich bin weg.« Sie trat durch die Tür und warf sie hinter sich zu.
    Auf dem Treppenabsatz zögerte sie, dann machte sie kehrt, öffnete die Tür, betrat wieder die Wohnung. »Schon gut, schon gut«, sagte sie. »Komm her, du blödes Vieh.« Sie öffnete den Käfig, packte den Hamster. »Du kannst mitkommen«, sagte sie.
     
    Kaum stand sie auf der Straße, warf sie den Stirnreif weg. Ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht traf ein und hielt vor dem Gebäude, in dem sie wohnte. Auf dem Weg durch die Parnassus Avenue riss sie sich die Ohrringe und alle zehn Fingerringe ab. Während sie auf ein Taxi wartete, schlüpfte sie aus den Schuhen, zog die Socken aus und entledigte sich der lästigen Zehenringe. Darunter war die Haut ganz blass und klebrig.
    Das Taxi traf ein.
    Im Taxi schlüpfte sie aus der Hose und entfernte die Knieschoner und mehrere große, klebrige Pflaster. Aus dem Fenster damit. Im Zug auf dem Weg zum Flughafen ging sie auf die Toilette und befreite sich von der Brustplatte und einem Dutzend weiterer Pflaster. Die Pflaster juckten höllisch, und als sie sie los war, fühlte sie sich himmlisch.
    Die schwarze Rollbahn war voller leuchtender Flugzeuge. Es sah hübsch aus, wie sie die Flügel bogen und sich einfach in die kalte Nachtluft emporschwangen, wenn sie abheben wollten. Aufgrund der hauchdünnen Hüllen konnte man die Menschen in den Flugzeugen sehen. Manche hatten die Leselampen eingeschaltet, doch die meisten machten in ihren Sitzsäcken die Beine lang und betrachteten durch den Rumpf hindurch den Nachthimmel. Oder aber sie schliefen, denn dies war ein Billigflug nach Europa. Alles ging nahezu lautlos vonstatten und war wunderschön anzusehen. Und es war überhaupt nichts dabei.
    Sie ging zum Abflugsteig und stieg hinauf. Die Stewardess sprach sie auf deutsch an, als sie das Flugzeug betrat. Sie öffnete die Tasche, holte den Hamster heraus und zeigte ihn der Stewardess, steckte den Hamster wieder hinein. Dann wandte sie sich ab und schritt voller Zuversicht über den Mittelgang davon. Die Stewardess unternahm nichts.
    Sie wählte einen hübschen braunen Sitzsack in der Business Class aus und legte sich hinein. Später

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