Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
sie die Tasche wieder hervorholte, war diese weit geöffnet, und sie stellte fest, dass der Hamster entkommen war. Das hässliche kleine Pelzmonster war geflohen, entweder im Zug oder schon im Frankfurter Bahnhof. Zunächst regte sie sich ein wenig auf, dann aber wurde ihr bewusst, wie komisch das war. Der Hamster ist los! Massenpanik in Europa! Also, Lebewohl und viel Glück, Postnagetier! Kein Bedauern, okay?
     
    In Munchen stieg sie aus, weil ihr der Name der Stadt gefiel. Früher einmal hatte sie Munich, Muenchen, Moenchen oder sogar München geheißen, doch im Zuge der gesamteuropäischen Schreibreform war Munchen daraus geworden. Munchen, Munchen, Munchen. Irgendjemand hatte mal gesagt, Stuttgart sei die weltweit bedeutendste Kunstmetropole, doch der Name Stuttgart klang nicht halb so hübsch wie Munchen.
    Als sie entdeckte, dass man an den Kiosks Brezeln bekam, wusste sie, dass ihr Munchen gefallen würde. Keine kleinen, vertrockneten amerikanischen Stangenbrezeln mit Jodsalz, sondern große, warme, knusprige Brezeln, die wahrscheinlich noch Spuren von Weizen und Hefe enthielten. Im Munchener Bahnhof standen etwa hundert fröhliche Jugendliche aus ganz Europa für diese handschellengroßen Brezeln an. Die bayerischen Sozialdienstleute von der Bäckerei wirkten angesichts der Situation ausgesprochen blasiert. Man sah ihnen an, dass sie irgendwelche Hintergedanken hatten.
    Sie verspeiste genussvoll zwei dieser Riesenbrezeln, trank noch etwas Wasser, und dann suchte sie sich ein anderes, noch hübscheres Mädchen mit langem blondem Haar und einem Mantel aus blauem Samt und folgte ihm. Und so gelangte sie zum Marienplatz.
    Auf dem Platz waren U-Bahn-Ausgänge und ein Springbrunnen mit einer kreisförmigen steinernen Brüstung und einer großen Marmorsäule mit vier Bronzeengeln, die Teufeln schräge Blicke zuwarfen. Oben auf der Säule stand eine vergoldete Jungfrau Maria, welche den Platz offenbar überwachte. In einer Ecke war eine Telepräsenzsite und ein paar Boutiquen mit beweglichen Schaufensterpuppen. Viele lange, schlanke EuroFahrräder waren abgestellt. Alle möglichen Leute schlenderten über den Marienplatz. Touristen aus aller Welt. Vor allem Indonesier.
    Wie andere Jugendliche auf dem Platz lehnte auch Maya sich an die Brüstung des Springbrunnens. Aus den großen Bronzekübeln dreier muskulöser Bronzestatuen ergossen sich nicht abreißende Wasserströme. Die Sonne ging bereits unter, und es war recht kühl. Die Kinder hatten rote Backen und windzerzaustes Haar und trugen Jacken und bunte Halstücher und seltsame Euro-Kinderstiefel.
    Hin und wieder trotteten zwei große Polizeischäferhunde über den Platz, dann verstummten die Kinder und versteiften sich ein wenig.
    Der Marienplatz war wunderschön. Es gefiel ihr, dass die Munchener ihre Kirchen gut in Schuss hielten: Spitzbögen, Balkons, das Fleisch transzendierende Heiligenfiguren aus glitschig wirkendem Stein. Besonders gefielen ihr die bunten mittelalterlichen Holzroboter der Turmuhr.
    An der Turmspitze waren drei nackte Katholiken an den Füßen aufgehängt, die Hände zum Gebet gefaltet. Offenbar handelte es sich um ein Bußritual. Man konnte nicht behaupten, dass sie um Aufmerksamkeit heischten; die Katholiken dort oben waren sogar recht schwer zu bemerken, wie sie da nackt von den Zacken des gotischen Turms hingen. Sie boten ihre Körper dem Wind und der Kälte dar, fromm und hingebungsvoll, in so großer Höhe, dass nicht einmal ein Drache an sie herangereicht hätte.
    Irgendjemand sprach sie an. Sie riss den Blick von den Turmbüßern los und wandte sich um. »Wie bitte?«, sagte sie.
    Vor ihr stand ein gut aussehender junger Mann in Schafsfelljacke und Schafsfellhose - eigentlich war der Typ mit einem ganzen Schaf bekleidet, einschließlich des braun verfärbten, augenlosen Kopfes, der Teil des Jackenkragens war. Am ganzen Körper war er mit weißer, lockiger Wolle bedeckt. Allerdings hatte er schwarzes, angeklatschtes Haar, das ihm bis in die ziemlich fliehende Stirn und über die schrägen schwarzen Augenbrauen fiel. »Ah, Englisch«, sagte er. »Kein Problem, ich spreche englisch.«
    »Tatsächlich? Schön. Hi!«
    »Hi. Woher kommst du?«
    »Aus Kalifornien.«
    »Heute erst in Munchen eingetroffen?«
    »Ja.«
    Er lächelte. »Wie heißt du?«
    »Maya.«
    »Ich heiße Ulrich. Willkommen in meiner wunderschönen Heimatstadt. Dann bist du also ganz allein, ohne Eltern, ohne Freund? Du treibst dich seit zwei Stunden auf dem Marienplatz

Weitere Kostenlose Bücher