Heimat Mars: Roman (German Edition)
Unmoralisches. Sie macht nichts kaputt, verschwendet nichts und zeigt uns, wie New York früher war …«
»Ich glaube nicht, dass Casseia ihr Lachs schmeckt«, sagte Kite und lächelte mitfühlend. Wenn ich ihn nur ansah, berührte es mein Herz. Ich war seiner Anziehungskraft hilflos ausgeliefert.
»Vielleicht ist der Lachs nicht mehr gut«, überlegte ich.
»Er schmeckt wirklich grässlich«, sprang Kite mir bei. »Vielleicht liegt’s an den imitierten Konservierungsstoffen. Schlecht werden kann so ein Essen ja gar nicht mehr, heutzutage.«
»Bestimmt«, sagte ich. Meine Unfähigkeit, dieses Essen und die Einladung dazu zu genießen, war mir peinlich.
»Designer-Bakterien. Machen sich nur über das her, was sie angreifen sollen.«
»Die Erde«, unkte Shrug, »ist ein riesiger Zoo.«
Darauf entbrannte eine Diskussion darüber, ob ›Zoo‹ der richtige Ausdruck sei. Sie einigten sich auf ›Garten‹.
»Habt ihr auf dem Mars eigentlich viele Morde?«, wollte Shrug wissen.
»Nur ein paar, nicht viele«, antwortete ich.
»Gewaltverbrechen faszinieren Shrug«, bemerkte Orianna.
»Ich würde gern mal einen echten Mörder verteidigen. Sie sind heutzutage so selten … ganze zehn Morde gab’s letztes Jahr in New York.«
»Und das bei fünfzig Millionen Einwohnern«, sagte Kite und schüttelte den Kopf. »Das hat uns die Therapie angetan. Vielleicht ist uns nichts mehr wichtig genug, um dafür zu töten.«
Orianna kniff die Lippen zusammen und stöhnte abfällig.
»Nein, wirklich«, fuhr Kite fort. »Shrug sagt, er würde gern die Verteidigung in einem Mordfall übernehmen. In einem echten Mordfall. Aber er wird wahrscheinlich nie einen erleben. Einen Mord. Man bekommt ja schon eine Gänsehaut, wenn man das Wort nur ausspricht.«
»Und wie steht’s mit den Leidenschaften auf dem Mars?«, fragte Shrug. »Sind sie tödlich?«
Ich lachte. »Beim letzten Mord, von dem ich gehört habe, ging’s um eine Frau, die ihren Mann auf einem einsamen Stützpunkt umgebracht hat. Ihre Familie – ihre Bindende Gruppe – hatte eine verheerende Erschöpfung erlitten …«
»Wie ich diese Sprache liebe!«, warf Shrug ein.
»… hatte eine verheerende Erschöpfung ihrer finanziellen Mittel erlitten. Man überließ die beiden einfach ein Jahr lang ihrem Schicksal. Niemand hat sich erkundigt, wie es den beiden auf dem Stützpunkt geht. Die BG wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, konnte sie aber nicht zahlen. Ein ziemlich ungewöhnlicher Fall«, schloss ich. »Auch wir schicken gestörte Menschen in eine Therapie.«
»Aha. Aber ist Mord gestörtes Verhalten ?«, fragte Kite, der gern provozieren wollte.
»Wenn du das Opfer wärst, würdest du das ganz sicher so sehen«, antwortete ich.
»Zu viel Gesundheit, zu viel Lebenskraft – zu wenig dunkle Ecken«, klagte Kite. »Worüber soll man da noch schreiben? Unsere besten LitVids und Sims handeln von nicht-therapierten Personen. Aber wie sollen wir über unser wirkliches Leben und das, was wir kennen, schreiben? Ich würde gern Sims produzieren, aber die geistige Gesundheit setzt einem dabei wirklich Grenzen.«
»Er vertraut dir seine geheimsten Wünsche an«, sagte Orianna. »Die erzählt er nur Leuten, die er mag.«
»Auch Konflikte zwischen gesunden Leuten bieten jede Menge Stoff«, entgegnete ich. »Politische Meinungsverschiedenheiten, die Vorbereitung von Entscheidungen.«
Kite schüttelte traurig den Kopf. »Das bringt uns wohl kaum zum Sinn unserer Existenz. Führt kaum zu irgendeinem entscheidenden Punkt. Möchtest du so leben?«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Genau so lebe ich im Augenblick«, antwortete ich schließlich.
»Kopf hoch«, sagte Shrug zu Kite. »Sie hat recht. Zusammenstöße von Organisationen, von Regierungen. Die gibt’s immer noch. GOWA gegen GASH. Könnte ein Bestseller werden.«
»Und selbst das nehmen sie uns jetzt noch«, seufzte Kite. »Keine Kriege mehr, nichts als wirtschaftliche Reibereien hinter verschlossenen Türen. Nichts, das unser Blut in Wallung bringt.«
»Kite ist ein Romantiker«, bemerkte Orianna.
Das schien ihn wirklich zu ärgern. »Ganz und gar nicht. Die Romantiker wollten sich selbst kaputtmachen. «
»Die Worte eines echten Kindes unserer Zeit«, frotzelte Shrug. »Kite drängt schon auf Gesundheit, wenn es hart auf hart kommt. Leidenschaft, Leben bis zum Exzess – aber bitte ohne jedes Risiko. «
Kite grinste. »Mich hat noch nie ’ne Leidenschaft erwischt, die ich nicht mochte«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher