Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Vater schlägt öfters zu, und seine Muter nimmt sich das Leben, als Paul 14 ist. Der Junge versucht, Angst, Trauer und andere Emotionen zu verstehen. Schon mit 15 schreibt er sich an der University of Chicago ein. Er setzt sich mit der Psychoanalyse auseinander und wird schließlich Therapeut. In den 1960er Jahren beginnt er, sich mit dem Gefühlsausdruck gesunder Menschen zu beschäftigen, um seinen Patienten besser helfen zu können. Ganz selbstverständlich geht er von der Standardmeinung aus, dass Gesichtsausdrücke rein kulturell geprägt sind. Er wundert sich allerdings, dass niemand das bis dahin kulturübergreifend nachgewiesen hat, und beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen.
Ekman kommt auf eine so einfache wie geniale Idee: Er macht Fotos von Menschen, die ein Grundgefühl wie Trauer oder Furcht ausdrücken. Dafür bittet er Schauspieler, jeweils eine bestimmte Emotion darzustellen. Mit den Fotos im Koffer bereist er viele Länder. Er zeigt die fotografierten Gesichter in den USA, Chile, Argentinien, Japan und befragt die Leute, was die Person auf dem Bild gerade fühlt. Schnell zeigt sich, dass die Menschen die Emotionen mühelos richtig zuordnen und überall gleich bewerten. Glück, Angst, Überraschung, Ärger, Trauer und Ekel sind deutliche Kategorien. Ekman wird langsam unsicher, ob die These vom rein kulturgeformten Gefühlsausdruck so unangefochten stimmt. Er überlegt, ob Emotionsausdrücke angeboren sind. Schließlich veröffentlicht er seine Befunde und Thesen.
Die Kollegen im Psychologie-Department laufen Sturm. Das kulturrelativistische Establishment der Ethnologie steht kopf, und die mächtige Margaret Mead bezeichnet seine Aussagen als kompletten Unsinn. Es ist die Hochphase des Streits Anlage gegen Umwelt, nature versus nurture . Zwischentöne sind nicht gefragt. Die Kritiker stürzen sich auf seine Publikationen und filetieren seine Befunde mit Genuss. Sind Emotionswörter überhaupt übersetzbar? Haben die Menschen die Bedeutung der gezeigten Gesichtsausdrücke vielleicht aus den weltweit beliebten Hollywoodstreifen gelernt? Hat der Wissenschaftler nicht die viel wichtigeren kulturspezifischen Gefühle übersehen? Ekman stellt sich solche Fragen selbst. Im Unterschied zu den Kritikern verwechselt er Biologie aber nicht mit Rassismus. Er ist ein streitbarer Mensch und fühlt sich herausgefordert. Er will die Probe aufs Exempel machen. Sein Plan: Er will Kulturen untersuchen, die keinen oder noch wenig Kontakt mit dem Westen haben. Ihr Verständnis von Mimik kann nicht durch moderne Filme oder westliches Fernsehen beeinflusst sein.
Wir Empathieweltmeister
1967 findet Ekman »seine« Kultur fernab jeglicher Zivilisation. Es sind die Fore, Bauern im südöstlichen Bergland Neuguineas auf knapp 2500 Meter Höhe. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten sie keinerlei Kontakt zur Außenwelt, danach nur zu Missionsschulen. Es führen keine Straßen zu ihnen, und sie kennen keine Schrift. Im Gegenzug beherrscht Ekman ihre Sprache nicht, so dass er anfangs nur mit den kleinen Jungs radebrechen kann, die auf der Schule etwas Pidgin -Englisch gelernt haben. Im Hochland angekommen, muss sich der amerikanische Wissenschaftler an das feuchte Klima und die sehr unamerikanische Kultur gewöhnen. In den ersten Tagen fällt ihm auf, wie viel Körperkontakt die Fore miteinander haben. Erwachsene Männer halten Händchen, was in den USA undenkbar wäre. Er braucht aber nicht lange, bis ihm klar wird, dass die Fore ansonsten ihre Gefühle ganz in der auch ihm gewohnten Weise ausdrücken.
Er macht Fotoserien von spielenden Kindern. Sie zeigen die bekannte Mimik: Fratzenschneiden, interessierte Blicke, Langeweile. Eines Tages ist Ekman müde, hungrig und hat Heimweh. Er öffnet eine sorgsam gehütete Dose Corned Beef. Die ewigen Yamswurzeln hat er gründlich über. Er löffelt mit Genuss. Essen ist Heimat. Ein alter Mann sieht ihm zu und rümpft die Nase, ohne etwas zu sagen. Paul braucht ihn nicht zu fragen, was er fühlt: Ekel. Stinkendes Fleisch aus der Dose, für einen Fore eine abscheuliche Vorstellung!
Auch im Hochland Neuguineas hat Ekman wieder Fotos in seinem Feldkoffer. Menschen in aller Welt finden Fotos spannend. Und im Widerspruch zu dem, was Ethnologen früher behauptet haben, kann jeder sie sofort interpretieren. Überall erzeugen sie Interesse, und die Menschen fragen nach. Vor allem wollen Menschen in allen Kulturen Bilder anschauen, auf denen Personen zu sehen sind. Wenn ich in Indonesien
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