Heimat
durch das die Mittagssonne spärlich glimmt. Er ist gut angezogen, so aufreizend normal. Vielleicht ein Grundschullehrer oder ein Weinladenbesitzer oder ein Übersetzer.
Die Nummer 190 ist Jo.
Der Mann mit der Einsteinfrisur stopft seine Kunstledertasche voll, am Ende hat er zusätzlich auch noch eine weiße Plastiktüte, alles prall gefüllt mit Lebensmitteln wie von einem Großeinkauf. Das Vollkornbrot von der letzten Station kurz vor dem Ausgang findet kaum noch Platz.
Eigentlich müsste er gar nicht hier herkommen, sagt Jo. Es sei eher ein psychologisches Moment. Die frischen Sachen, die regten ihn zum Kochen an. »Ich bin ja nicht so der häusliche Typ«, gibt er zur Erklärung. Sonst esse er eher mal Sachen auf die Schnelle, kaufe sich hier und da was. Aber so habe man dann auch mal was Gesundes. Es klingt harmlos. Das ist ihm wichtig.
Er sei seit drei Jahren arbeitslos, sagt er. Später sagt er noch: »Eigentlich bin ich schon immer arbeitslos.« Aber auch das klingt eher so, als erzählte er von einem Bekannten oder aus einem anderen Leben. »Ich sehe mich da nicht so ganz drin«, versichert Jo. »Wahrscheinlich
könnte ich morgen einen Job machen.« Wahrscheinlich? Könnte er? Was müsste denn dazu passieren? »Naja, ich bin ja eher so ein Verweigerer und Asket«, lenkt er ab.
Als Förderlehrer und Erzieher hat er gearbeitet, in den Warteschleifen der Arbeitsverwaltung hat der 46-Jährige inzwischen eine Fortbildung zum Veranstaltungsmanager und eine Ausbildung zum Online-Redakteur durchlaufen. Allerdings arten seine journalistischen Arbeiten immer etwas aus, ins Literarische, sagt er. Angewandt hat er seine schreiberischen Fähigkeiten bisher nur in einem Dachbegrünungs-Projekt der Stadtverwaltung. Er sollte bei Firmen, die sich für Dachbegrünung interessieren könnten, recherchieren und Interviews führen. Aber das ist jetzt auch schon eine Weile her. Manchmal verdient er sich als Straßenmusiker etwas zu Hartz IV dazu, nur so, »weil es mir Freude macht«.
Sich zu verkaufen, das fällt ihm schwer, sagt er. Verkaufen, verkaufen, verkaufen, das sei alles, was in dieser materialistischen Gesellschaft zähle. Jo spricht langsam, sucht nach Worten, manchmal ahnt man ein überwundenes Stottern. Dann wieder bricht sein Gesicht unter dem buschigen grauen Haar unvermittelt in ein breites Grinsen, wenn ihm ein neuer Gedanke kommt oder eine kluge Formulierung eingefallen ist. Er fröstelt in der Herbstluft vor der Kirche, aber er redet sich jetzt langsam warm, im Panzer gedrechselter Selbstbeschwichtigung tut sich ein kleines Türchen auf zu seiner Seelenlage.
»Wenn man wenig Geld hat, ist das schon so, dass man ausgegrenzt wird«, räumt er ein. »Man kann am Spiel der kapitalistischen Gesellschaft nicht teilnehmen. Ich gehe durch die Straßen und darf nirgends rein, die Möglichkeiten sind einfach begrenzt.« Deshalb seien die Dienstage bei Laib und Seele so wichtig. Er gehöre ja keiner Kirche an, sagt er. Aber den Wert der Institution erkennt er. »Das ist für einen Moment Gemeinschaft und Veranstaltung.« Es ist ein Anlaufpunkt, ein Termin in einer Woche ohne Plan. Man trifft Bekannte, redet, wärmt sich auf. »Die Leute finden ein Stück Heimat in dem Moment«, sagt Jo.
III. Verlorene Heimat DDR
Die Geschichte zeigt, warum sich die Westdeutschen in der alten Bundesrepublik so wahnsinnig schwer mit dem Thema Heimat tun und es in einer Art Endlosschleife immer wieder neu umkreisen. Doch das Verhältnis der DDR und der Ostdeutschen mit dem Dauerthema ist keineswegs weniger verkorkst. Nur anders.
Tatsächlich unternahm die Führung der jungen DDR nach dem Zusammenbruch des NS-Staats einige Verrenkungen, um sich das durch und durch bourgeoise und von den Nazis ins Groteske verfremdete Thema Heimat anzueignen. Während im Westen des Landes die Kommerzmaschine ansprang, um eine um braune Stellen und hässliche Trümmer bereinigte grüne Idylle zu zaubern, standen die Ideologieschmiede im Osten zunächst ziemlich ratlos vor dem Scherbenhaufen. Schließlich hämmerten und schweißten sie ihrem Arbeiter- und Bauernstaat aber beherzt ein neues Identitätsgerüst.
Obwohl dieses bis zum Ende reichlich aufgesetzt wirkte, entfaltet die »sozialistische Heimat« ironischerweise im Nachhinein besondere Kraft. Das künstliche Gebilde hat sich unauffällig eingenistet in die Lebensgeschichte von Millionen Menschen. Viele haben es dort verbucht und abgelegt, wie den ersten Kuss oder den ersten fiesen
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