Heimat
Lehrer oder die Ferien 1979 an der Ostsee. Viele aber verfolgt nun ein irritierender Phantomschmerz.
1. »Die Heimat hat sich schön gemacht«: Von den ideologischen Krämpfen der DDR
Ganz am Ende fällt ihm noch etwas ein. »Stichwort Heimat: Mein Führerschein ist noch mein DDR-Führerschein. Wollen Sie mal sehen?« Und tatsächlich, da ist er, ein sehr bärtiger junger Mann im Passbildformat auf rosa Papier, eine deutsche demokratische Fahrerlaubnis von 1983. »Den behalte ich«, sagt Jan-Hendrik Olbertz fast drei Jahrzehnte später. »Den würde ich nie hergeben.« 172 Es ist ein kleines Zugeständnis, eine kleine Anhänglichkeit an den verblichenen sozialistischen deutschen Staat, von dem Olbertz sonst so weiten Abstand hält.
Der Erziehungswissenschaftler war 35, als die Mauer fiel. Es war der Beginn eines rasanten Aufstiegs. Institutsdirektor in Halle, Berufung zum Professor, zum Kultusminister von Sachsen-Anhalt und schließlich zum Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität. Dass viele ehemalige DDR-Bürger die Vereinigung als Abstieg erlebt haben, als wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollaps, der sie tief verunsichert, das könne er gut nachvollziehen. »Aber diese Erfahrung habe ich gar nicht. Es gab keinen Moment, in dem ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte.« Er weine der DDR keine Träne nach.
Jan-Hendrik Olbertz ist ein viel gefragter, viel beschäftigter Mann, aber das ist jetzt Nebensache. Er sitzt sehr entspannt und redet sehr freimütig und nachdenklich über seine Heimat DDR. Oder vielmehr über die Nicht-Heimat DDR. Denn er sieht keinen Zusammenhang. »Ich glaube nicht, dass das, was Ostdeutsche mit Heimat verknüpfen, mit der DDR zu tun hat«, meint er. »Meine Heimat ist an der Ostsee in Rostock, und ich denke heute noch an viele Dinge mit Sehnsucht und Wehmut, an Bilder, Geräusche, Gerüche, den Dialekt dort, an die Straßenzüge, die Jahreszeiten, das Haus meiner Eltern, das da noch steht. Aber das hat nichts mit der DDR zu tun. Ich sehe nichts DDR-Spezifisches, nicht so ohne weiteres jedenfalls.«
Trennungsschmerz könne nur fühlen, wer emotional gebunden sei. Aber an die DDR? Obwohl er nicht Teil der Bürgerbewegung gewesen sei, habe er wie viele Intellektuelle vom Staatsapparat Distanz gehalten. »Wir haben uns die Neujahrsansprache von Erich Honecker
angeguckt - aber um uns zu amüsieren. Wir haben uns das angehört und so gelacht, wie, wenn man heute einen Comedian anschaut.«
Er erzählt die Geschichte von seinem Vater, einem Professor der Agrarwissenschaften, der seine sechs Kinder bisweilen schwer zurechtwies. »Wir haben gesagt, wir leben in der DDR, aber er sagte: Nein, wir leben im Georginenweg 14. Hier ist der Gartenzaun - auf der Seite ist die DDR, da kann ich nichts dran ändern, aber wenn ihr diese Schwelle überschreitet, dann ist es vorbei.« Als die Kinder zur Maiparade das Haus mit Fähnchen schmücken wollten, gab es »richtig Ärger«. Der Vater, als Wissenschaftler profiliert, kam offenbar weitgehend unbehelligt mit seiner DDR-kritischen Haltung durch, auch wenn er - wie später auch sein Sohn - den Argwohn der Staatssicherheit erregte. »Er hat uns dazu gebracht, unseren Verstand zu nutzen, er war voller Ironie und voller Spott über diesen ganzen Zirkus«, erinnert sich Olbertz. »Keines seiner sechs Kinder ist je in eine Partei eingetreten, bis heute nicht.«
Zum »Zirkus« seiner Erinnerung gehört auch das gruselig-kitschigschöne Lied der Thälmann-Pioniere, das er nach mehr als 40 Jahren noch immer aus dem Stand anstimmen kann: »Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau blitzt ihr im Haar«, singt er los und regt sich über die Fassung auf YouTube auf, die für ein Wanderlied viel zu langsam sei. Bis heute sieht er auch die Ironie im mentalen Spagat der DDR-Oberen zwischen der »sozialistischen Heimat« und der deutschen Nation. Einmal schrieb Olbertz in einem Visumantrag für Ungarn in der Spalte Staatsangehörigkeit »DDR« und bei Nationalität »deutsch«. Es war gar nicht als Provokation gemeint, wurde ihm aber sofort als Unbotmäßigkeit ausgelegt. Die Nationalität sollte auch »DDR« sein. »Bei Sigmund Jähn war es dann plötzlich andersherum, der sollte ja nicht der erste ‚DDR-Bürger im All’ sein, sondern der ‚erste Deutsche im All’«, sagt Olbertz. »Da mussten die sich aus der Affäre ziehen, ich habe die Schlagzeile des Neuen Deutschland noch genau vor mir: Der erste Deutsche im All - ein Bürger der DDR.
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