Heimat
Man könnte sagen: Sie suchen eine Heimat. Allerdings scheint das Ziel vorerst fast unerreichbar: »Sie haben Angst, dass es dazu nicht mehr reicht.« Schon lange trieb diese Generation der 20- bis 35-Jährigen die Befürchtung um, dass es ihnen eben nicht besser gehen werde als der Generation ihrer Eltern. »Und nun ist sie da, die große Krise, die große Rezession, die Bestätigung all der Ahnungen, die wir schon seit Jahren mit uns herumtragen.« 60
Die Verunsicherung ist also real und sie ist ein Massenphänomen, ebenso wie die Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit, Gewissheit. Allerdings ist sie nicht neu. Die marxistische Theorie der Entfremdung des Arbeiters von der entmenschlichten Welt des Kapitals - das Phänomen, das nun die Mittelschicht heimsucht - ist immerhin mehr als 150 Jahre alt. 61 Die Deutschen haben als Reaktion auf ihre Existenzängste und zur Befriedung ihrer tiefen sozialen Konflikte über mehr als ein Jahrhundert ein weltweit einzigartiges System sozialer Sicherheitsnetze aufgebaut.
Und es ist kein Zufall, dass die Einschnitte in diese Sicherungssysteme seit der Jahrtausendwende die alten deutschen Ängste nähren. Die Hartz-Reform hat dafür gesorgt, dass das Existenzminimum für einst Wohlhabende binnen Jahresfrist zur realen Drohung wird. Der Soziologe Berthold Vogel sieht dahinter eine Logik der Politik, »dass man nur dann Leistung erwarten könne, wenn es eine permanente Verunsicherung gebe. Dahinter steckt ein problematisches Menschenbild.« 62
Das Bild einer von namenlosen Mächten getriebenen, von jeder individuellen Verantwortung entrückten Wirtschaftsmaschinerie, die jeden einfach untermangelt, trifft die deutsche Realität des 21. Jahrhunderts deshalb auch nicht ganz. Politiker und Wirtschaftslenker haben Entscheidungen getroffen, taktische und strategische. Sie haben das System modelliert. Unabhängig von der Verantwortung für das damit angerichtete Unheil, ergibt sich daraus eine Option: Wer Entscheidungen in eine Richtung treffen konnte, kann sie auch korrigieren. Die Regierung hat jedenfalls ihre jahrelang an das Loblied des Laissez Faire gewöhnten Bürger mit plötzlicher Schlagkraft verblüfft, als sie im Herbst 2008 und noch einmal im Frühjahr 2010 innerhalb einer Woche das deutsche Finanzsystem mit staatlichen Milliardenversprechen vom Untergang bewahrte. Ungläubig bestaunte das Wahlvolk die Verstaatlichung von Banken und Milliardentransfers an die Sozialkassen wie den fernen Nachhall einer verschwundenen Zeit, eine Reminiszenz an eine Ära stabiler Institutionen. »Ich glaube schon, dass die Gesellschaft im Augenblick staatsbedürftig ist«, sagt Soziologe Vogel. Er äußert sich zwar skeptisch, ob der Staat die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann. Doch bleibt eine Ahnung, dass die verloren geglaubten Strukturen vielleicht noch als Sicherheitskopie auf irgendeiner externen Festplatte lagern. Netzwerke, Familie, Vereine, Kirche - in der Not beginnt die Rückbesinnung auf tot gesagte Institutionen.
So ist es auch in der Trinitatis-Gemeinde, immer dienstags, bei der Armenspeisung Laib und Seele - einer von 800 in Deutschland, die insgesamt rund eine Million Menschen versorgen. Es kommen die, deren Abstiegsängste wahr geworden sind.
»Hallo«, sagt die Frau am Mikrofon, »dann machen wir mal weiter. Mit der 52? Der 162? Der 72?«
Erstmal tut sich gar nichts.
»Die 72? Die 163? Die 154?«
Da setzen sich zwei Frauen in Bewegung. Vorne bei der Gemeindehelferin am Mikrofon unter dem riesigen Kreuz geben sie ihre Wartenummern ab, nun dürfen sie in die Runde mit den Marktständen gehen,
die unter der Empore der alten Backsteinkirche aufgebaut sind. Vorne der Lauch und der Schnittlauch, Brokkoli und Lollo Rosso, der Weißkohl und der Romanesco, dann kommen die Bananen und Pflaumen, die Äpfel und Kiwis, ganz hinten am anderen Ende das Büffet mit Brot und Brötchen. An den Ständen helfen grauhaarige Damen in dicken Pullovern beim Einpacken.
»Die 70? Die 72? Die 80? Die 85?«
Viele sind mit Rentnerkarren gekommen. Sie parken vor den hölzernen Kirchenbänken, auf denen ihre Besitzer dösen, Zeitung lesen. Junge und Alte, Frauen und Männer, Mütter und Omas. Dutzende.
Ein noch ziemlich junger Mann in Jeansjacke hat sich eine eingeklappte Minisackkarre vom Rücken abgeschnallt. Nun sitzt auch er, in der letzten Reihe. Er sieht aus wie ein Passagier in der U-Bahn, gelangweilt. Er verdreht die Augen, schaut hoch zum bunten Fenster über dem Altar,
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