Heimat
häufiger in größeren Haushalten und seltener allein wohnen. 56,7 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund leben in der klassischen Familie Vater, Mutter, Kinder, während es in der übrigen Bevölkerung nur 35,5 Prozent sind. Der Durchschnitts-Zuwanderer hält sich seit 20,3 Jahren in Deutschland auf. 241
Jenseits dieser trockenen Daten eint die Menschen in diesem statistischen Potpourri die Erfahrung eines »Lebens in geteilten Welten« und des »Ich-Bebens«, wie es Psychoanalytiker genannt haben. 242 Es ist ein Hin- und Her-Gerissensein zwischen den Chancen des Aufbruchs und der Mühsal des Ankommens, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen der Realität in der neuen Heimat und der Erinnerung an die alte. Es ist eine Waage, die auf die eine oder die andere Seite kippen kann. In jedem Fall bleibt zunächst Verunsicherung über die eigenen und die fremden kulturellen Regeln und den Umgang mit ihnen.
Die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates beschreibt ihre Kindheit in den beiden sehr unterschiedlichen Sphären in ihrem Buch »Große Reise ins Feuer«: »Wir lebten nun also in einem anderen Land, das uns nicht gehörte. Und die Deutschen, denen dieses Land gehörte, durften bestimmen, wie man sich zu verhalten hatte, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Das wurde uns von unseren Eltern immer wieder vorgebetet. Wir sollten uns in Acht nehmen vor den Deutschen, sie seien ganz anders als wir.« Sie selbst fügte sich - anders als ihre Eltern - bald in die neue Welt, nämlich in der Schule, wo sie mit guten Leistungen Anerkennung fand. Nachmittags tauchte sie dagegen wieder in das kleine Exil der exportierten Regeln in ihrer Familie ein, wo sie sich als Mädchen von Vater und Brüdern unterdrückt fühlte. Die Spaltung der beiden Lebenswelten ging so weit, dass sie als Teenager ernsthaft eine arrangierte Heirat mit einem Cousin in Erwägung zog,
um ihrem strengen Elternhaus zu entkommen. Tatsächlich haute sie dann aber kurz vor dem 18. Geburtstag von Zuhause ab und lebte jahrelang mit einem Deutschen in linksalternativen WGs. 243
Ein entscheidender Faktor des kulturellen Übergangs ist Sprache. In der Integrationsdebatte gilt sie zu Recht als Schlüssel für den Erfolg von Migranten im Aufnahmeland. Aus der Perspektive des Einzelnen ist die neue Sprache aber nicht nur schwierig, sie ist auch eine Station der Entfremdung von den eigenen Ursprüngen. »Nur zu Hause sprechen wir immer Arabisch«, schreibt der ägyptische Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid. »Wir schauen auch das arabische Fernsehprogramm. Ich habe Angst, vieles zu verlieren, zuallererst natürlich meine Sprache, aber auch anderes mehr. Werde ich noch derselbe Mensch sein, wenn ich zurückkehre? Wird sich mein Umgang mit den Menschen nicht verändert haben, meine Art, auf Leute zuzugehen, auf sie zu reagieren, Höflichkeiten zu verteilen und durch die Blume zu sprechen, bestimmte Nuancen in der Stimme zu bemerken und meiner eigenen Stimme diese Nuance zu verleihen.« 244 Heimat - das sind die Nuancen. Man kann sie sich in einer fremden Kultur erarbeiten. Aber die Schnittmenge ist nie 100 Prozent, auch nicht bei jenen, die sich im neuen Land vollständig öffnen und in die Kultur eintauchen. Es bleibt immer ein Rest an Unergründlichem.
Gleichzeitig ist das völlige Eintauchen nicht die Regel bei Menschen, die ursprünglich nur auf Zeit kamen - im Gegenteil: Viele klammern sich auf unsicherem Grund an ihre kulturelle Erstausstattung. So sagten 2009 in einer vergleichenden Studie des Info-Meinungsforschungsinstituts 93 Prozent der befragten Türken in Deutschland, sie müssten unbedingt ihre türkische Kultur bewahren. 245 Nur 16 Prozent von ihnen sagten, sie sprächen zuhause überwiegend Deutsch.
Bei vielen Wertefragen lagen die Zuwanderer mit ihren Antworten zwischen den Menschen in der alten und denen in der neuen Heimat. So meinten in der Umfrage nur neun Prozent der befragten Deutschen, Kindererziehung sei Frauensache. Unter den Türken in Deutschland waren es 32 Prozent, unter denen in der Türkei 52 Prozent. Ein Zusammenleben von Mann und Frau vor der Ehe lehnten acht Prozent der Deutschen ab, aber 47 Prozent der Türken in Deutschland und 67 Prozent der Türken in der Türkei.
Es zeigt sich also eine Annäherung der Türken in Deutschland an das deutsche Wertesystem, aber eben keine Angleichung. Die Religion hat bei ihnen einen weitaus höheren Stellenwert: Unter den befragten Deutschen sagten 51 Prozent, es sei
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