Heimat
wichtig, an Gott zu glauben; unter den Türken in Deutschland waren es 89 Prozent, in der Türkei sogar 98 Prozent. Tradition bezeichneten 65 Prozent der Deutschen als wichtig, aber 83 Prozent der Türken in Deutschland und 90 Prozent der Türken in der Türkei.
Angesichts der Einzelergebnisse verwundert es kaum, dass sich die Mehrzahl der befragten Türken in Deutschland nicht ganz zuhause fühlen. Obwohl 30 Prozent der befragten hier lebenden Türken in Deutschland geboren wurden und weitere 31 Prozent bereits 30 Jahre oder länger hier leben, sagen insgesamt nur 21 Prozent, Deutschland sei ihre Heimat. Weit mehr, nämlich 37 Prozent empfinden eher die Türkei als ihre Heimat. 38 Prozent sagen, beide Länder seien gleichermaßen ihre Heimat, vier Prozent sehen sich in keinem der beiden Länder verwurzelt und aufgehoben. 62 Prozent sagten, sie fühlten sich in Deutschland als Türke und in der Türkei als Deutscher. Immerhin fast jeder Zweite, 45 Prozent, fühlt sich in Deutschland unerwünscht.
Die Studie »At Home in Europe: Muslims in Europe« kommt für ihre Stichproben in Hamburg und Berlin zu ähnlichen Ergebnissen, gleichzeitig lenkt sie mit ihrem Vergleich von insgesamt elf Städten in der EU den Blick auf deutsche Besonderheiten. Von den in Hamburg befragten muslimischen Einwanderern sagten nur 22 Prozent, sie fühlten sich als Bürger des Landes, in Berlin waren es 25 Prozent. Dagegen sagten dies in der englischen Stadt Leicester 82 Prozent, in London 72 Prozent, in Amsterdam 59 Prozent und in Marseille 58 Prozent der befragten Muslime. 246 Während die von den Befragten empfundene Diskriminierung in Deutschland vergleichsweise gering war, gab es doch einen wesentlichen Grund, warum sich die Menschen nicht zugehörig fühlten: die Tatsache, dass man bei den ethnischen Deutschen nicht als »richtiger Deutscher« akzeptiert werde. Die Wissenschaftler zitieren eine Frau mit den Worten: »Deutscher zu sein, bedeutet Volkszugehörigkeit. Deshalb kann ich nicht deutsch sein, aber ich kann deutsche Staatsbürgerin sein.« 247
Bei allen allgemeingültigen Problemen des Einwanderers in der Fremde, des wie auch immer ausgeprägten »Kulturschocks« und der Entwurzelung als Teil der Migrationserfahrung - in der Bundesrepublik ist vieles wegen des jahrzehntelang eigenartigen Umgangs mit der Einwanderung noch schwieriger als in anderen westlichen Ländern oder zumindest auf eigenwillige Art schwierig. Die Holländer plagen sich mit einer rechtspopulistischen Reaktion auf das hoch gehaltene Ideal des Multikulti, die Schweizer schockten die europäischen Muslime 2009 mit ihrem Minarettverbot, die Franzosen stehen ratlos vor der Gewalt ihrer Vorstädte. Aber keiner der europäischen Nachbarn hat behauptet, es gäbe gar keine Einwanderung und alle Schwierigkeiten seien nur vorübergehend und verschwänden von alleine wieder.
In Deutschland hat der Umgang mit Zuwanderung zu einer Hierarchie der Fremdheit geführt. Entscheidend sind dabei die Voraussetzungen, unter denen die Menschen ins Land kommen durften, und ihr rechtlicher Status. Vieles hängt daran, ob ihnen eine Perspektive auf Dauer eröffnet wurde oder nur auf Zeit.
2. Gefillte Fisch in Charlottengrad: »Es ist alles so, wie zuhause«
Mit ihren luftschnappenden Mäulern driften sie langsam rückwärts. Wie U-Boote in der Gegenstromanlage, alles in Zeitlupe. Wie lange so ein Karpfen wohl in so einem Aquarium überlebt? Sie sehen unglaublich alt aus, altertümlich und fett und bräsig, man meint, das erste Moos auf der Rückenflosse zu erahnen.
»Also«, sagt Feliks, »überleben könnten die hier sicher ein halbes Jahr. Aber sie wohnen hier nicht länger als eine Woche, dann sind sie alle verkauft.«
Eine Woche? Wer soll hier in einer Woche ein Dutzend fetter Karpfen kaufen?
Wie zum Beweis rauscht eine blondierte Dame im Pelzkragen durch die Tür und nimmt die Viecher ins Visier. Es dauert eine ganze
Weile, bis sie sich einen der Fische ausgesucht hat. Sie beratschlagt auf Russisch mit Feliks. Der schleicht schließlich gemächlich hinter seine Theke und zückt den Käscher. In eineinhalb Sekunden zappelt der Unglückselige im Netz und starrt nun seinem Schicksal in die Augen. Die Blonde nickt. Kein guter Tag für einen Fisch.
Einige seiner Aquariumskumpane hat es wohl schon am Morgen erwischt, denn auf Feliks’ Tageskarte stehen »gefillte Fisch«.
»Man nimmt vorsichtig das Fleisch aus der Haut«, erklärt er. »Gräten raus, das Fleisch hacken
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