Heimaturlaub
Patrouille. Langsam hob Wüllner das Gesicht des Kameraden und prallte entsetzt zurück.
Dieses blutverschmierte, verzerrte, vor Fieber gedunsene Gesicht kannte er. Dieser Mund hatte so oft mit ihm gelacht. Und diese Augen, die ihn jetzt wie irr anblickten, hatten einst geglänzt voll Tatendrang … damals auf dem Balkan, in Petrowna, als das Balkanmädchen ihn zum Küssen verführte … Wüllner wischte sich über die Augen, keines Wortes und keiner Handlung mächtig … der stöhnende, verlassene, vergessene Kamerad war der Kriegsberichter Wilhelm von Stohr!
So trafen sie sich also wieder, der Zufall allein bestimmte das Schicksal. Heinz Wüllner hob den Freund auf seine Schulter, arbeitete sich durch das Gebüsch und kroch zurück, schrittweise, langsam, begleitet von dem leisen Röcheln des bewußtlosen, abgeschriebenen deutschen Soldaten.
Wie hätte man sich auch offiziell um ihn kümmern können? Die Patrouille kam nicht zurück – also war sie aufgerieben, also schrieb man 12 Briefe, aus denen hervorging, daß für Volk, Führer und Vaterland den Heldentod … man habe sie ehrenvoll begraben … sogar Salut geschossen … ja, und ein Bild der Grabstätte treffe später ein … Aus! Erledigt! Welche Nummer hatte der Mann? Richtig? Nr. 234.679. Stohr. Wilhelm. Sogar ein ›von‹! Ein Strich ins Wehrstammbuch, ein Strich in den Wehrpaß, ein Strich in die Listen … ad acta … ein Mensch hatte aufgehört zu leben … bald wußte man gar nicht mehr, ob er überhaupt gelebt hatte … es blieb nur eine durchgestrichene Nummer … wer war das denn noch? Gleichgültig … er lebte ja nicht mehr …
Und doch lebte er! Er lag auf dem Rücken seines Freundes, der ihn mühsam zu den deutschen Stellungen schleifte.
Nach zwei Stunden kam Heinz Wüllner mit seiner Last bei den deutschen Vorposten an und fuhr in derselben Nacht noch seinen Freund zu dem nächsten Hauptverbandsplatz. Dort legte ihn der wachhabende Stabsarzt gleich auf den Tisch, trennte ihm den Ärmel auf, sah die brandige Wunde, sah die Knochensplitter aus dem zertrümmerten Oberarm ragen und griff zu Säge und Messer …
Eine Stunde später transportierte man Kriegsberichter Wilhelm von Stohr in den Krankensaal, legte ihn in ein Bett mit überzogenem Strohsack und deckte ihn vorsichtig zu … den einarmigen, in der Narkose stammelnden Krüppel Wilhelm von Stohr … die Nummer 234.679 der deutschen Wehrmacht.
Wüllner schloß die Augen. Tränen kamen ihm, als er sah, wie der Freund in den Saal gefahren wurde. Der Stabsarzt drückte Heinz bewegt die Hand und meinte, es sei höchste Zeit gewesen; noch ein Tag und Wundfieber wäre in Starrkrampf übergegangen … Aber der Arm wäre zu retten gewesen, wenn man den Herrn Leutnant sofort nach seiner Verwundung zum Verbandsplatz gebracht hätte. Die Knochenfraktur war heilbar … Aber die Blutvergiftung und der Wundbrand waren zu weit fortgeschritten, um den Arm halten zu können.
Wüllner tapste aus dem Krankensaal wie ein Bär, der übermüdet seine Faxen tanzen muß … die Beine wurden ihm schwer, die Glieder wie Blei … es war das Gewicht des Grauens und des Ekels. Es war die Schuld, die ihn würgte, die Schuld, die ihn bedrängte, weil er tagtäglich für den großdeutschen Rundfunk erzählen mußte, daß Heldentod und Krieg die Seele des Mannes veredeln … Da spuckte Heinz Wüllner weit aus, vergrub die Hände in den Taschen seines Rockes und begab sich zu seinem Wagen, um wieder hinauszufahren in das Inferno der Front.
Im Krankensaal aber erwachte in einem engen Bett ein blasser Mann, blickte mit großen Augen um sich, wunderte sich und wollte mit dem rechten Arm zu einem Glas Wasser neben sich greifen … doch was sich hob, war ein verbundener, schmerzender Stumpf!
In grenzenlosem Entsetzen sank der Körper zurück, ein Zittern überfiel ihn, ein Schütteln und Beben.
Der blasse Mann mit der Nummer 234.679 weinte, weinte wie ein Kind …
Und im Nebenraum spielte das Radio: Es ist so schön, Soldat zu sein … Die bittere Ironie des Schicksals konnte nicht schmerzhafter sein.
Zwei Monate später – die Invasion rollte über die französische Küste – befand sich Kriegsberichter Heinz Wüllner im Sondereinsatz bei Cherbourg. Als nach wenigen Monaten die Front sich der deutschen Grenze näherte, die ersten amerikanischen Truppen in die Eifelstellung einbrachen, den Westwall durchstießen und das Bunkersystem aufrollten, als Aachen gefallen war und die Front sich dem Rhein näherte – in
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