Heimkehr am Morgen (German Edition)
verschwunden.
Später saß Jess mit einem Kaffee am Küchentisch, als sie hörte, wie unten die Praxistür geöffnet wurde. Ein neuer Patient?, fragte sie sich. Soviel zu Horace Cooksons Vorhersage, dass es hier ein ruhiger Monat werden würde.
»Telegramm für Dr. Layton!«
Sie sprang auf und eilte die Treppe hinab. Im Wartezimmer stand ein Junge, den sie nicht kannte. Er trug eine Wollmütze und Knickerbocker, und ein Hemdzipfel hing ihm aus der Hose. »Ich bin Dr. Layton.«
»Unterschreiben Sie hier, Ma’am. Mr. Fenton sagt, es sei dringend.« Er drückte ihr einen Quittungsblock und einen Stift in dieHand. Als sie mit ihrem Kürzel unterschrieben und ihm den Block zurückgegeben hatte, spurtete er hinaus, schwang sich auf ein altes Fahrrad und sauste davon.
Jessica schloss die Tür und starrte den Umschlag der Western Union an, als enthielte er eine Schlange. Ihrer Erfahrung nach brachten Telegramme für gewöhnlich schlechte Nachrichten.
Aber es musste sein. Beklommen riss sie es auf. Als sie die hastig zusammengefaltete Notiz herauszog, sah sie, dass sie von ihrem zukünftigen Arbeitgeber stammte.
Dr. Jessica Layton
Powell Springs, Oregon
-DRINGEND-
Ihre Hilfe am Allgemeinen Krankenhaus in Seattle umgehend benötigt. Verheerende Grippe in Stadt. Medizinische Versorgungslage sehr angespannt. Hohe Todesrate. Bitte kommen Sie unverzüglich. Gezeichnet Dr. Thomas Martin
Sie ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und las das Telegramm noch einmal. Leroy Fenton hatte etwas über einen Grippeausbruch in Camp Lewis erzählt. Und die Grippe hatte sich von einigen wenigen Menschen, die der Truppenparade zugesehen hatten, auf ganz Seattle ausgebreitet? Der Fall war ernst, das war ihr klar. Obwohl sie versprochen hatte, einen Monat in Powell Springs zu bleiben, änderte sich durch diese neue Entwicklung alles. Sie würde am Samstag den nächsten Zug nach Norden nehmen und die Sorge um die Gesundheit der Stadt wieder in die Hände von Granny Mae legen müssen.
Es gab keine Alternative.
Adam Jacobsen saß an seinem Schreibtisch, genau demselben Schreibtisch, der schon seinem Vater gehört hatte. Den Stift in der Hand starrte er auf ein leeres Blatt Papier. Der Tag neigte sich demEnde zu, und er saß hier schon seit einer guten Stunde und versuchte, eine eindrucksvolle Predigt für den Sonntagsgottesdienst zu verfassen. Um ihn herum lagen Papierknäuel, das Ergebnis verworfener Anfänge und als zu langweilig erachteter Ausführungen.
Obwohl er den Beruf seines Vaters ergriffen hatte, ertappte sich Adam manchmal dabei, die Ansichten seines alten Herrn über Gott und die Religion in Frage zu stellen. Er war nicht wirklich davon überzeugt, dass zornige Ermahnungen, Drohungen mit Feuer und Schwefel und donnernde Predigten der einzige Weg waren, um Menschen auf dem Pfad der Tugend zu halten. Aber so hatte man es ihm eingetrichtert. Reverend Ephraim Jacobsen hatte über die Seelen von Powell Springs geherrscht – seinen Sohn und seine Frau eingeschlossen –, und zwar mit eiserner Entschlossenheit, die Wurzeln des Übels auszureißen, wo immer sie sich auch zu verbergen versuchten.
»Der Feind ist gerissen und kann vielerlei Gestalt annehmen«, pflegte er zu sagen, »aber Gott lässt sich nicht überlisten – und er verlangt Gehorsam.« Adams Mutter hatte auf diese starren Ansichten mit zunehmender Distanz reagiert, zunächst emotional und zuletzt im wörtlichen Sinn. Vor fünf Jahren war sie nach Colorado gegangen, um ihre alte Mutter zu pflegen, und war nie zurückgekehrt, nicht einmal zum Begräbnis ihres Ehemanns im letzten Winter. Den Kontakt zu ihr hatten sie nur brieflich aufrechterhalten.
Adam hatte sich die Lehren seines Vaters über einen furchteinflößenden Gott zu eigen gemacht. Ephraim Jacobsen war überzeugt davon gewesen, der Himmel habe ihn persönlich zum Soldaten Gottes auserwählt. Den offiziellen Einberufungsbefehl, die Bibel, hatte Gott der Allmächtige selbst diktiert und von einem seiner Himmelsboten zustellen lassen. Auch den unerschütterlichen Patriotismus seines Vaters hatte Adam geerbt, sowie den unanfechtbaren Glauben, dass Präsident Wilsons Entscheidungen direkt von Gott kamen.
Nun, da sein Vater tot war und Adam seine Aufgaben übernommen hatte, fühlte er sich manchmal zwischen unterschiedlichen Auffassungen über das Hirtenamt hin- und hergerissen.Doch jedes Mal, wenn er eine geringfügige Abweichung von den Lehren seines Vaters auch nur in Erwägung zog, ergriff ihn
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