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Heimkehr am Morgen (German Edition)

Heimkehr am Morgen (German Edition)

Titel: Heimkehr am Morgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Harrington
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gerissene Trommelfelle und natürlich die grässlichen Anzeichen der Zyanose – Verfärbungen, die von bläulichem Grau bis hin zu Indigo reichten –, waren besonders entsetzlich und schockierend. Die Geräusche der Kranken, das Husten, Stöhnen und Würgen, und ihr unzusammenhängendes Gemurmel hallten von der Decke und den Wänden des großen offenen Raumes wider. Jede neueNachricht, derer Jessica habhaft werden konnte, bestätigte, dass es sich um Influenza handelte, die zu einer weltweiten Epidemie geworden war. Sie war sich jedoch sicher, dass einige Symptome denen von Typhus oder Cholera glichen. Noch nie hatte sie etwas Derartiges erlebt.
    Und was den Rest der Welt anging – nun, für Jessica war die Welt auf einen einzigen Ort zusammengeschrumpft, Powell Springs.
    Bei Einbruch der Nacht setzte sie sich einen Augenblick an ihr Pult in der Ecke und massierte sich die Schläfen, während sie das Elend um sich herum auf sich wirken ließ.
    Granny Mae, die pflichtbewusst ihren Mundschutz trug, saß auf einem Hocker neben dem zitternden, sechsjährigen Philip Warnecke und kühlte ihm die Stirn mit einem Schwamm.
    »Mama«, wimmerte der Junge leise. Sein dunkles Haar war feucht und die Augen glänzten vom Fieber. »Will meine Mama.«
    »Still jetzt, junger Mann. Deine Mama ruht sich aus, und das solltest du auch tun«, beruhigte ihn Granny.
    Was Mae dem Jungen erzählte, war nicht einmal komplett gelogen. Anna Warnecke »ruhte« in ein Laken gewickelt und mit einem Namensschild versehen zusammen mit zwei anderen Opfern im Umkleideraum und wartete darauf, dass sie von Fred Hustads Bestattungsunternehmen abgeholt würde. Sie war kurz nach ihrer Verlegung in die Turnhalle gestorben. Nun war Philip Waise. Sein Vater war letzten Juni in Frankreich gefallen.
    Gerührt von dem traurigen Schicksal des Kindes hatte sich Granny seiner angenommen. Um den Hals trug sie einen Beutel mit Teufelsdreck, einem besonders übelriechenden, geheimnisvollen Kraut, das laut Volksglauben vor Krankheiten schützen sollte. Jessica wollte lieber nicht so genau wissen, was das für ein Zeug war, und war dankbar für ihren Mundschutz, der die üblen Gerüche fernhielt. Wäre sie nicht so verzweifelt auf Granny Maes Hilfe angewiesen gewesen, hätte sie verlangt, dass diese das abscheuliche Ding abnahm und hinter dem Schulgebäude vergrub. Aber sie war sich darüber im Klaren, dass sie nur einen Streit vom Zaun brechenund die alte Frau womöglich vertreiben würde, und das konnte sich Jess nicht leisten.
    Vorläufig herrschte zu ihrer Erleichterung ein brüchiger Waffenstillstand zwischen ihr und dem alten Dragoner. Sie hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, wie lang er anhalten würde. Der Rest ihrer mit Mundschutz bewehrten Freiwilligen, ein wenig ängstlich, aber fügsam, folgte ihren Anordnungen, ohne viele Fragen zu stellen. Jedem Patienten hatte man die Brust dick mit Vicks VapoRub eingerieben, die Stelle mit einem Stück Flanell bedeckt – laut Granny würden die Dämpfe dann besser in die Lunge eindringen – und ihm die vom Apotheker hergestellten Morphiumpillen verabreicht.
    Doch was konnte Jess mit solch kümmerlichen Mitteln bei diesen Menschen schon ausrichten? Sie fühlte sich, als würde sie einen Heuschreckenschwarm mit der Fliegenklatsche bekämpfen. Weder ihre Ausbildung noch ihre bisherige Berufserfahrung hatten sie auf das hier vorbereitet. Welcher moderne Arzt hatte es schon in letzter Zeit mit solch einer Epidemie zu tun gehabt?
    In Anbetracht der Dinge, die sie erfahren und hier mit eigenen Augen gesehen hatte, musste sie eingestehen, dass diese Grippe mehr als eine Epidemie war.
    Sie war wahrhaftig so schlimm wie die Pest.

    Es war schon beinahe acht Uhr, als Jess zurück in ihre Praxis ging. Obwohl es in Powell Springs nachts immer sehr ruhig war, wirkte die Stadt jetzt beinahe verlassen, als ob alle Hals über Kopf vor einem unsichtbaren Feind geflohen wären. Sie hielt den Kragen ihres Mantels eng zusammen und versuchte ihre müden Schritte zu beschleunigen, während ein eisiger Wind durch die Bäume fegte und Laub vom Boden aufwirbelte. Das Licht der wenigen Straßenlampen reichte nicht aus, um die Atmosphäre der Düsternis und Leere, die über der Stadt hing, zu vertreiben.
    Endlich kamen Coles Schmiede und die Praxis daneben in Sicht. Obwohl sie kaum noch konnte, trieb sie sich zur Eile an, wie ein erschöpftes Pferd, dem kurz vor dem Ziel noch einmal die Sporen gegeben werden. Außer Atem und

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