Heimkehr der Vorfahren
Ihr Alter nach dem irdischen Kalender bestimmen. Sie wären angeblich dreihundertfünfundsiebzig Jahre alt. Aber Sie wissen ja, ältere Leute sind manchmal ein wenig wunderlich.«
Daß Jacquelaine ihn ohne übertriebenen Respekt behandelte, tat Romain wohl. Dennoch sagte er: »Wissen Sie, im Grund hat Ihre Tante recht. Geboren bin ich nun einmal im Jahre neunzehnhundertsiebzig. Aber ich halte es mit einem alten Spruch: Man ist so alt, wie man sich fühlt.«
»Und wie alt sind Sie dann?« fragte sie keck.
»Fünfundzwanzig«, sagte er mutwillig.
»Dann sind Sie zu jung für mich, ich bin schon zweiunddreißig.«
»Und ich in Wirklichkeit vierzig – passen wir nun zusammen?«
Romains Zimmer lag im ersten Stock über der Terrasse und bot einen Blick auf die Hydroplantagen. Es hatte keine Fenster, die ganze Außenwand bestand aus Glas. Romain fühlte sich wie auf einem Balkon ohne Geländer. Einige Sessel, die man zu Liegen umklappen konnte, ein dreibeiniger Intarsientisch, eingebaute Schränke, ein Fernsehschreibtisch mit Bildtelefon, eine Kopiereinrichtung und ein Bildband-Abspielgerät, Bilder, große Vasen und eine Büste, die Romain nicht kannte, machten die Einrichtung aus. Es gefiel ihm hier, an das Heimkehrerdorf dachte er kaum noch. Jacquelaine ließ eine Schranktür aufspringen.
»Mein Koffer ist noch im Klubhaus«, sagte Romain verlegen.
»Er wird bald hier sein«, behauptete sie. »Wie ich Tante Suzanne kenne, hat sie bemerkt, daß Sie ohne Gepäck kamen. Tante Narkas Tasche ist ja auch noch im Klub. Wollen Sie ein Weilchen ruhen?«
Er drohte ihr mit dem Finger. »In meinem Alter braucht man Ruhe, wie?«
»Dann zeige ich Ihnen den Park hinterm Haus.« Sie deutete auf den Platz unter ihnen. Der Gratulationszug bog um das Institutsgebäude. »Tante Suzanne sehen wir erst bei der Tafel wieder.«
Es wurde ein ereignisreicher Tag. Unter den Kronen uralter Baumriesen mit tief herabhängenden Zweigen schlenderten sie über kurzgeschorenen Rasen, durchquerten sonnenhelle Lichtungen und standen unvermittelt vor einem See voller Teichrosen.
Romain blieb stehen. Er kam sich vor, als wäre er in ein Gemälde aus der Zeit der Klassiker hineingestiegen. Diese heitere Ruhe, diese vollendete Ausgeglichenheit! Hätte neben ihm nicht jenes anmutige und ausgelassene Geschöpf gestanden, er hätte daran gezweifelt, im vierundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Jacquelaine bewahrte ihn davor, sich in nutzlosen Träumen zu verlieren. Alles, was sie tat oder sprach, war so, als könne es gar nicht anders sein: sicher, selbstbewußt, selbstverständlich.
Ihm schien, als kennten sie sich seit Jahren, als habe er die dunklen Haare, die kecke Nase, ihre braunen Augen täglich gesehen, ihre verhaltene Stimme täglich gehört. Mit ihr mußte man gut Freundschaft halten können.
Als sie aus dem Park zurückkehrten, nahm ihn das fröhliche Treiben der Gäste gefangen. Auf der Terrasse und dem Platz des Wirtschaftshofes, im Park und auf den Wegen zwischen den Plantagen bewegte sich zwanglos eine nach Tausenden zählende Menge. Es gab Büfette mit warmen und kalten Speisen und mit einer verwirrenden Anzahl von Getränken – wen es danach gelüstete, der holte sich, was er mochte, und nahm an einem der Tische Platz. Auf einer Freilichtbühne zeigten musisch beflissene Bürger der Stadt Proben ihres Könnens, und Stände für die verschiedensten Geschicklichkeitsspiele boten Abwechslung.
Romain unterhielt sich angeregt mit Mutter Suzanne. Am liebsten hätte sie es gesehen, wenn er ihr eine ausführliche Schilderung seiner Erlebnisse auf den fernen Planeten gegeben hätte. Doch als sie ihre Speisen verzehrt hatte, war es mit dem Gespräch vorbei. Sie mußte sich neuangekommenen Gratulanten widmen und konnte lediglich noch mit einem Glas Enzian anstoßen, was bei Mutter Suzanne ein Zeichen besonderer Hochachtung war. Sie vertröstete Romain auf den Abend und verschrieb ihm, im Glauben, daß er eine Betreuerin brauchte, Jacquelaine als ständigen Lotsen durch den Trubel dieses Tages.
So zog er, das Mädchen am Arm, zur Freilichtbühne und lauschte einem Duett. Die Stimmen nahmen ihn gefangen, ein schmiegsamer, reiner Koloratursopran und ein kraftvoller Tenor. Die Sopranistin sang von fernen Welten, zu denen sie aufbrechen wolle, der Tenor aber beklagte das Geschick, auf der Erde bleiben zu müssen und sie zu verlieren.
Romain lauschte mit Verwunderung. Er empfand einen eigenartigen Gegensatz zwischen Musik und Text. Die Melodie kam ihm süßlich
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