Heimlich
den Wagen und duckte mich auf den Beifahrersitz. Ich versuchte es im Handschuhfach. Es war verschlossen. Ich fuhr mit der Hand über die Lenksäule entlang und fand, was ich wollte: die Zulassung in einem Lederetui, das an der Lenksäule befestigt war. Ich zog den Schein heraus und duckte mich noch tiefer.
Auf dem Dokument der Plastikhülle stand zu lesen: Henry Robert Hart, 1164¼ Hurlburt Place, Culver City, Kalifornien.
Das war alles, was ich brauchte. Ich befestigte den Schein wieder an der Lenksäule, verschloß Henry Harts Auto und rannte zu meinem eigenen.
Hurlburt Place war eine ruhige Straße mit kleinen Häusern, die ein paar Blocks von den MGM-Studios entfernt lagen. Nummer 1164¼ war eine Garagenwohnung. Ich parkte auf der anderen Straßenseite und durchwühlte meinen Kofferraum nach Ersatz für Einbrecherwerkzeug. Ein Schraubenzieher und ein Zimmermannslineal aus Metall waren alles, was ich fand.
Ich überquerte langsam die Straße und ging durch die Einfahrt, die wieder zur Garage führte. Im Vorderhaus waren keine Lichter an. Die Holztreppe, die zu Henry Harts Appartment hochführte, knarrte so laut, daß man sie bis in die Innenstadt hören mußte, aber mein eigener Herzschlag schien sie noch zu übertönen.
Das Schloß war ein Witz: Ich setzte das Lineal und den Schraubenzieher gleichzeitig an und knackte es ganz leicht.
Als die Tür aufging, stand ich zögernd da und überlegte, ob ich es wagen sollte, einzutreten. In der Vergangenheit war ich immer als Polizist eingedrungen; diesmal war ich Zivilist. Ich holte tief Luft und ging hinein, wickelte ein Taschentuch um meine rechte Hand und fummelte nach den Lichtschaltern. Ich stolperte in der Dunkelheit und knallte gegen eine Stehlampe, die ich dabei fast umstieß. Ich hielt sie in Hüfthöhe und schaltete sie ein. Das Licht fiel auf ein ödes Wohn-/Schlafzimmer. Vergammelte Stühle, ein vergammeltes Bett, abgetretene Teppiche und billige Ölbilder an den Wänden - wahrscheinlich Erbstücke lange zurückliegender Vormieter.
Ich gab mir eine Minute, um das Zimmer zu filzen. Ich stellte die Lampe wieder auf und überblickte schnell den Raum. Ich entdeckte einen Beistelltisch, auf dem schmutziges Geschirr stand, einen Stapel Wäsche auf dem Fußboden neben dem Bett, eine Anzahl Taschenbücher, die durch zwei Bierflaschen aufrecht gehalten wurden und gegen ein Fenstersims gelehnt waren, und verschiedene leere Zigarettenschachteln.
Die Minute war schon fast um, als ich einen Stapel Zeitungen erblickte, die unter dem Bett hervorragten. Ich zog sie hervor. Es waren alles Zeitungen aus Los Angeles, und sie enthielten alle Artikel mit detaillierten Berichten über den Mord an Marcella Harris.
Am Rand der Zeitungsartikel waren handschriftliche Anmerkungen, Bitten und Gebete voller Trauer: »Lieber Gott, bitte fang dieses Monster, das meine Marcella getötet hat.« - »Bitte, bitte, bitte, lieber Gott, mach, daß dies ein Traum ist.« - »Die Gaskammer ist zu gut für diesen Abschaum, der meine Marcella getötet hat.« Neben einem Foto des Beamten, der die Untersuchung leitete, standen die Worte: »Dieser Kerl ist ein Taugenichts! Er sagte mir, ich solle verschwinden, Bullen bräuchten die Hilfe von Marcellas Freunden nicht. Ich sagte ihm, dies ist ein Fall für das FBI.«
Ich überflog die restlichen Zeitungen. Sie waren chronologisch geordnet, und Henry Harts Trauer schien zu wachsen: Die Notizen auf der letzten Zeitung waren unleserlich gekritzelt und schienen von Tränen verwischt.
Ich sah auf die Uhr: Ich hatte das Licht acht Minuten lang angelassen. Das Taschentuch immer noch über meine Hand gewickelt, riß ich alle Schubladen der drei Schränke auf, die an der Wand standen: leer, leer, leer; schmutzige Wäsche, Telefonbücher.
Ich öffnete die letzte, hielt inne und zitterte beim Anblick meines Fundes: eine Schublade, die mit rosa Seide ausgelegt war. Schwarze Spitzenbüstenhalter und -höschen lagen sorgfältig gefaltet in einer Ecke. In der Mitte befand sich eine Zigarrenkiste voll mit Marihuana. Darunter lagen Schwarzweißfotos von Marcella DeVries Harris, nackt auf einem Bett liegend, mit Schleifchen im Haar. Ihr sinnlicher Mund lockte mit einem »Komm-doch-mal-her«-Blick, der gleichzeitig Krönung und Parodie aller »Komm-doch-mal-her«-Blicke war.
Ich starrte und spürte, wie das Zittern auch mein Innerstes ergriff. Eine derart kalte, wissende und sich belustigende Intelligenz wie in Marcella Harris’ Augen hatte ich nie gesehen.
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