Heimliche Wuensche
Laune zu halten. Nellie, du bleibst am besten in der Küche und kochst. Deine wunderbaren Gerichte werden Tante Berni ganz sicher erfreuen.«
Nellie machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten. Sie schob ihr Essen auf dem Teller hin und her. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie keinen Appetit. Wenn man Hunger hatte, war das ein Zeichen, daß man lebendig war. Und in diesem Augenblick fühlte Nellie sich nicht sehr lebendig.
Terel drehte sich Nellie zu und studierte sie. Ja, es würde viel besser sein, wenn man Nellie vor dieser reichen Verwandten versteckte. Terel hätte sich nicht so viel Sorgen gemacht, wenn Nellie noch so dick gewesen wäre wie früher. Aber diese neue Nellie — schlank, schön, von einer unbewußten Anmut —, brachte die Leute dazu, sich mindestens zweimal nach ihr zu erkundigen. Was Nellie an sich hatte, daß die Leute so viel Sympathie für sie empfanden, war ihr, Terel, absolut schleierhaft. Miss Emily, diese neugierige alte Hexe, fragte ständig nach Nellie. Und beim Gottesdienst erkundigten sich alle, ehe sie in ihren Bänken Platz nahmen, nach Nellies Gesundheit. Terel vermutete, daß das wohl mit der Großzügigkeit zusammenhing, mit der Nellie ständig ihr Essen an die Schmuddelkinder von Chandler verteilte. Nicht einer dachte jemals daran, sich bei ihrem Vater zu bedanken, daß er für dieses Essen bezahlte, noch kam jemand auf die Idee, Terel sein Mitgefühl auszusprechen, weil sie schließlich entbehren mußte, was Nellie vom Familienvermögen für andere Leute ausgab. Nein, jeder sah nur Nellies Rolle als edle Spenderin.
Nun sah Nellie aus wie die Heldin eines Trauerspiels mit ihren großen Augen, in denen das Elend nistete. Jeder, der ihr in den letzten Tagen begegnet war, schien vor Mitleid für sie zu zerfließen. Aber warum? fragte sich Terel. Sie hätte beinahe einen sehr reichen Mann geheiratet — den Nellie ihrer Meinung nach gar nicht verdient hätte — und dann das Richtige getan, indem sie bei ihrer Familie blieb. Warum versuchte sie nun jeden mit ihrer Leidensmiene anzustecken? Terel wußte, daß Nellie sie nur mit ihrem Trübsinn bestrafen wollte, doch niemand schien das begreifen zu wollen. Diese dumme Kuh Mae Sullivan hatte doch gestern zu ihr gesagt, daß sie fast geneigt wäre, Nellie die Wahrheit über Mr. Montgomery zu erzählen, nämlich daß er gar keine andere Frau in Chandler geküßt hätte. »Mich ausgenommen«, hatte Terel gesagt, sich auf den Absätzen gedreht und war davongegangen.
Warum waren die Leute nur so dumm? wunderte sich Terel. Warum wollten sie nicht begreifen, daß Nellie bei ihrer Familie viel besser aufgehoben war? Wer wußte denn, was dieser Montgomery für ein Mann war? Vielleicht mißhandelte er eine Frau, wenn er mit ihr verheiratet war. Vielleicht trank er. Vielleicht war er ein Hochstapler, der gar kein Geld hatte. Vielleicht hatte Terel ihre Schwester vor einem Schicksal bewahrt, das schlimmer war als der Tod.
Sie sollte nun nicht länger ihren Geist mit diesem Montgomery befrachten, sondern lieber an Tante Berni denken. Terel war der Meinung, daß sie eine prächtige Erbin abgeben würde. Paris, Rom, San Francisco, dachte sie. Pelze, Juwelen, Häuser.
Sie sah wieder zu Nellie hin. Sie sollte lieber diese Erbtante von Nellie fernhalten, falls sie zu diesen Typen gehörte, die sich von Nellies Leidensmiene rühren ließen und dann die gute Fee spielen wollten. Terel hatte nicht die Absicht, auf ein Vermögen zu verzichten, nur weil Nellie ein paar Tage lang mit einem unglücklichen Gesicht durchs Haus lief.
»Ich denke, ich werde ein paar Menüs zusammenstellen«, sagte Terel nachdenklich. »Wir dürfen nicht knausern, solange Tante Berni bei uns auf Besuch ist.« Sie lächelte Nellie zu und überlegte sich dabei die komplizierten Gerichte, die sie bei Nellie bestellen wollte. Nellie würde eine Woche lang die Küche nicht verlassen können, und da Tante Berni nur drei Tage bleiben wollte . . .
Nellie war in der Küche, als sie den Trubel hörte, den die Ankunft ihrer Tante im Haus auslöste. Sie ging nicht hinaus in die Halle, um die Tante zu begrüßen, weil sich schon ihr Vater und Terel um den Besuch bemühten. Sie hörte die erhobene Stimme ihres Vaters und das Keuchen von Männern, die schwere Koffer in den Oberstock trugen. Nach einer halben Stunde oder so bereitete Nellie ein Tablett vor mit einem Krug heißen Apfelweins und einem Teller voller Weihnachtsplätzchen, die sie ihrer Tante bringen wollte.
Weitere Kostenlose Bücher