Heimspiel
kann der Gipfel im Sommer ausfallen«, führt die Kanzlerin die Idee weiter.
»Das wird Washington nicht freuen!«
»Na, hoffentlich werden die wütend, denn das hilft mir dann im Wahlkampf zusätzlich. Wir werden alle instruieren, nächste Woche offensiv den Abzugsplan zu spielen. Die Franzosen machen den Doppelpass mit, die Engländer werden wieder mauern, aber wir kontern mit den Kleinen. Die Holländer, Spanier und Dänen setzen wir auf die Flügel. Und Italien darf abstauben.«
Die Büroleiterin schmunzelt, Netzer leistet ganze Arbeit.
»Also gut, ich werde das Auswärtige Amt und den Verteidigungsminister über unsere Marschrichtung unterrichten. Alles auf Abzug, das Endspiel wird freigesperrt.«
Auf dem Flug zum Afghanistan-Gipfel nach Bonn wollen der Außen- und der Verteidigungsminister wissen, wie ernst sie es meint mit dem Abzugscoup.
»Wir ziehen das jetzt durch. Wir sind ab sofort die Friedensregierung. Sie dürfen das als diplomatische Meisterleistung Ihrer liberalen Außenpolitik verkaufen. Sie sind ab jetzt der Friedensaußenminister!«, sagt die Kanzlerin ohne jeden Anflug von Ironie, hebt dabei sogar leicht den Zeigefinger, um ihre Übertreibung mit einer ernsten Geste zu kaschieren. Hernach ballt sie die Hand zur Faust und lässt sie zackig auf der Armlehne nieder, genau da, wo früher Aschenbecher untergebracht waren. Ihr ganzer Körper ruckt dabei und setzt sich zugleich ein minimales Stück aufrechter. Ihr Rücken berührt die champagnerfarbene Lehne ohnedies nicht.
Der Außenminister spürt die demonstrative Zielstrebigkeit ihrer Strategie und vollendet ihre Übertreibung:
»Und ich stärke den Zusammenhalt Europas. Wir zeigen Kante gegen die Amis.«
Bei der Wortwahl wiederum durchfährt die Kanzlerin ein Gefühl des Fremdschämens, weil er die richtige Balance von Übertreibung und Anmaßung nicht findet. Sie blickt in sein unfertiges Gesicht, denkt »Matrose« und wendet sich – ehe er ihre Gedanken lesen kann – rasch dem Verteidigungsminister zu, den sie für klug hält, weil er seine große Eitelkeit hinter der Fassade eines protestantischen Arbeitsethos geschickt zu verbergen weiß.
»Und Sie, Sie holen die siegreiche Truppe heim. Das gibt reihenweise Heldenbilder für den Wahlkampf«, provoziert sie ihn in seiner geschauspielerten Bescheidenheit. »Heldenbilder? Ich werde jahrelang nicht mehr im Pentagon vorgelassen! Die Amerikaner werden sich rächen.«
»Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Die Sache wird für uns drei ein echtes Heimspiel.«
Die Stewardess reicht Apfelschorle. Alle lächeln.
Netzer wird gebeten, am Abend im Petersberger Schlosshotel noch eine Trainingsstunde mit ihr zu absolvieren. Der Hoteldirektor ist informiert, die Kanzlerin kennt ihn. Ja, sie nennt ihn beim Vornamen Thomas. Das ist selten bei ihr, denn anders als ihr Vorgänger und noch mehr ihr Vorvorgänger ist sie sparsam mit dem Du. Die beiden benutzten das Du gar als Instrument der Erniedrigung. Sie ist da höflicher, aber Thomas hatte sich ihr beim ersten Besuch auf dem Petersberg – es war zu einer Umweltkonferenz – im Kellermeistergestus mit Thomas vorgestellt, und das tat er unverstellt, was ihr gefiel, und so nannte sie ihn fortan Thomas.
In Bonn ist es langweilig. Sagt Thomas. Das denkt sie auch, sagt es aber nie. Er muss es wissen, denn er lebt schon seit 44 Jahren hier. In der Nähe zumindest, südlich am Rhein. Sein Urgroßvater war Winzer, sein Großvater war Winzer, sein Vater war Winzer. Er nicht. Er könne die Trauben nicht mehr sehen. Das ist schlecht, denn rund um sein Heimatdorf rheinaufwärts gibt es gar nichts anderes als Trauben. Thomas wollte immer mehr als Trauben, er machte einen ordentlichen Schulabschluss, ging auf die Fachhochschule für Tourismus, wollte in die Welt jenseits der Weinberge. Er schaffte es nach Köln und Frankfurt, nach Zürich und Stuttgart. Er sah hässliche und ganz hässliche Hotels. Er lernte Englisch und ein rudimentäres Börsenenglisch. Er spekulierte ein wenig mit Aktienoptionen und konnte sich bald einen Mercedes leisten, und wenn er damit ins Winzerdorf fuhr, dann bewunderten ihn sein Vater und der Großvater. Und immer wenn er nach Hause kam, gab ihm seine Mutter die gute Trockenbeerenauslese mit. In Stuttgart gebe es so etwas Gutes doch gar nicht – armer Thomas.
Eines Tages las er von einer Stelle als Manager auf dem Petersberg. Er vergaß seine Meinung zu den Trauben und zu Bonn und bewarb sich sofort. Und weil er aus Oberdollendorf
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