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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Oezdogan
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Schlange an der Kasse ist immer zu lang, die Kassiererin scheint zu langsam, die Zeit zu knapp.
    Zu jedem Fahrer, der sie auf dem Heimweg aufzuhalten scheint, hat Fuat einen Kommentar parat: Dir kann man doch am Hemdkragen ansehen, dass du den Unterschied zwischen einem Personalausweis und einem Führerschein nicht kennst, rechts ist das Gas, der Straßenverkehr ist kein Kino, wo man nur zuschaut, in der Zeit, die der zum Kuppeln braucht, kann ich mir die Nägel schneiden.
    |137| Jede Ampel scheint ihre Rotphase extra für sie zu verlängern, und jedes Mal haben sie weniger als fünf Minuten Zeit, wenn sie in die noch immer ungepflasterte Straße einbiegen. Fuat parkt vor dem Haus und springt schon mal hinein, denn der Fernseher braucht mehr als eine Minute, bis er ein Bild zeigt. Gül und die Kinder tragen die Einkäufe in die Küche, wo sie sie einfach stehenlassen. Es ist Samstagmittag, es kommt
Nachbarn aus Europa
, das verpassen sie nie.
    Genauer gesagt verpassen sie den türkischen Teil der Sendung nicht,
Türkiye’den mektup
, Brief aus der Türkei. Jeden Samstag sitzen sie zu viert zwanzig Minuten lang vor dem Fernseher, außer einem hin und wieder gemurmelten
Kaum fassbar
wird kein Wort gesprochen.
    Es ist die einzige Zeit in der Woche, in der die vier nebeneinander auf dem Sofa sitzen, Fuat ganz links, daneben Gül, Ceren kuschelt sich an ihre Mutter, und ganz rechts sitzt Ceyda, die immer ein wenig desinteressiert wirkt. Was gehen sie die Nachrichten an.
    Doch auch sie genießt diese Momente, in denen das Fernsehgerät nur zu ihnen spricht, und das hat nicht nur etwas mit der Sprache zu tun.
    Woche für Woche sitzt die Familie zwanzig Minuten beisammen, falls es vorher Streit gegeben hat, hat der gerade Pause, niemand schafft es, für die Dauer der Sendung eine grimmige Miene beizubehalten. Falls jemand Schmerzen hat, vergisst er sie einfach, alle Sorgen machen Platz für die Bilder und Stimmen aus dem Fernseher.
    Würde man sie hinterher fragen, wüsste Gül oft genug nicht, welche Beiträge sie gerade gesehen hat, sie sitzt da und saugt den Frieden ein, die Stille, die mit dem Klang der Worte entsteht. Als würden der Rhythmus und die Melodie der Sprache ihrer Ahnen eine Liebe ins Wohnzimmer tragen, eine Liebe und Verbundenheit mit der fruchtbaren Erde Anatoliens, als würde das Braun dieser Erde mit dem Schall ins |138| Wohnzimmer getragen werden, der Geruch der Akazien und der des verbrannten Kuhdungs, selbst wenn sie nur Bilder aus Ankara und Istanbul zeigen, Bilder von Beton und Anzügen und Uniformen, in denen Männer stecken, die austauschbar scheinen.
    Es ist, als würde Gül zwanzig Minuten auf einer Insel aus ihrer Kindheit sitzen, einem Land, das für immer verloren ist, für uns alle, das aber nie verschwinden wird.
    Nach diesen zwanzig Minuten erscheint das Leben leichter, und mag die Arbeit sich türmen wie ein Berg, sie ist nur ein Hügel auf einer Insel, von der man nicht vertrieben werden kann.
    In diesen zwanzig Minuten samstagmittags sind alle vereint, sie gehören zusammen, das ist die Zeit der Eintracht.
    Wann habe ich meinen Vater und meine Mutter je so gemeinsam gesehen, fragt sich Gül. Wann hat man bei uns so zusammengesessen außer bei den Mahlzeiten? Dank, Dank sei dem Herrn.
    Dieser Mann mag trinken, er mag sich eine dünnere Frau wünschen, er mag spielen, aber wir sind eine Familie, wir haben ein Heim, und wer würde schon freiwillig ein Heim zerstören?
    Ein Heim zerstört man nicht. So sagen die Ahnen. In dieser unberechenbaren Welt ist es wichtig, ein Dach über dem Kopf zu haben, unter das man sich zurückziehen kann, und sei es nur auf das Sofa vor dem Fernseher.
    Gül singt nicht. Sie summt nicht mal. Aber man kann sie sich singend vorstellen, während sie nach der Sendung kocht und ihre Töchter ihr helfen. Samstags scheint die Sonne in dieses Haus und nicht nur hier, samstags scheint die Sonne in der ganzen Heimstraße, das ganze Jahr lang. In den Jahreszeiten, die sie alle Winter nennen. Die Sommer währen nur kurz, sie sind die Zeit zwischen zwei Autofahrten, die endlos scheinen. |139| Es ist Samstagmorgen, Fuat schläft noch, Ceyda kommt in die Küche, wo Gül gerade Belag für Lahmacun bereitet. Heute kommen Saniye, Yılmaz und Sevgi zum Abendessen, Gül hat den Kartoffelsalat schon fertig. Nach
Nachbarn aus Europa
muss sie nur noch Teig kneten, sie hat alles im Griff, doch allein Ceydas Gang könnte Gül aufschäumen lassen. Diese steifen Schritte, denen man

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