Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
einberufen waren und die Wichtigkeit der Konferenz entsprechend hoch zu werten war. Marietta und ihr Chef hatten schon seit Jahren ihre Kurzformeln gefunden.
»Verflucht. Hoffentlich dauert das nicht wieder ewig.«
»Glaube nicht. Die Hälfte ist in Ferien. Die größten Schwätzer bleiben dir wohl erspart. Hast du was vor?«
»Noch eine Sitzung, Marietta, mein Engel. Der Familienrat tagt heute Abend.«
»Sei gnädig, Proteo. Übrigens hat der Questore sich nach Kopfersberg erkundigt.«
»Der Questore?« Laurenti war erstaunt. Woher mochte der Polizeipräsident jetzt schon erfahren haben, daß der Österreicher vermißt wurde? »Was zum Teufel interessiert das den Chef?«
»Hat mich auch gewundert«, antwortete Marietta. »Er wollte nur wissen, was passiert ist und wie weit wir sind.«
»Das war alles?« Laurenti hatte eigentlich einen guten Draht zum obersten Polizisten Triests, freundschaftlich, soweit die Hierarchie dies zuließ, und der Questore achtete seinen leitenden Kriminalbeamten wegen dessen Besonnenheit und Umsicht, aber auch wegen der meist von raschem Erfolg gekrönten Ermittlungen. Trotzdem war es immer seltsam, wenn der Questore sich einmal persönlich nach einem Fall erkundigte.
»Er hörte sich ganz normal an.«
»Na ja, ich werd’s schnell genug erfahren. Sonst noch was?«
»Nichts Wichtiges. Wieder eines der üblichen Hitzeopfer, und daß es noch heißer werden soll.« Alte Menschen starben bei diesen Hitzewellen wie die Fliegen. Und alte Menschen gab es in Triest mehr als anderswo. Alleinlebend und auf sich gestellt, weil die Jungen vor vielen Jahren dahin gezogen waren, wo es interessanter zu sein und mehr Zukunft zu geben schien. Wenn keine Familie mehr in der Stadt war und vielleicht auch keine Freunde mehr, dann konnte es passieren, daß irgendwann aus einer dieser Wohnungen ein übler Geruch drang und untersucht werden mußte, ob es sich um eine natürliche oder eine gewaltsame Todesursache handelte. Während der Hitzeperioden war dies leider eine der häufigen Routinearbeiten. Laurenti war froh darüber, schon seit vielen Jahren nichts mehr damit zu tun zu haben. Darum mußten sich die jüngeren Kollegen kümmern, die noch am Anfang ihres Berufswegs standen. Trostlose Angelegenheiten.
»Ich komme gegen halb sechs noch mal ins Büro«, sagte Laurenti.
»Da bin ich schon weg«, hörte er, »ich geh noch schwimmen.«
»Sauf nicht ab, ich brauche dich!«
Laurenti schaute auf die Uhr, es war kurz nach vier. Er hatte noch genug Zeit, um beim »Piccolo« vorbeizugehen und zu versuchen, ob sich nicht etwas in der Sache des wild gewordenen Volontärs und seines Feldzugs für Anstand und Sitten unternehmen ließe.
Das Gebäude Via Guido Reni 1 gehört zu den minderen der typischen Bausünden jener Epoche, als man auf Biegen und Brechen modern sein wollte. Auf dem Dach des Bürotrakts trug es in großen blauen Lettern die Leuchtreklame »Ii Piccolo«. Es war nicht das einzige häßliche Gebäude in diesem Stadtteil am Ausläufer des Borgo Giuseppino und wurde noch vom städtischen Hallenbad übertroffen, das aber in naher Zukunft Bekanntschaft mit der Abrißbirne machen würde. Und natürlich von einem aberwitzigen Hochhaus, an dessen oberstem Geschoß die Leuchtreklame der »Lloyd Trieste Assicuriazioni« prangte. Es versperrte mit glorioser Scheußlichkeit die Sicht auf das Hafenbecken und den Golf. Das war das Verbindende zwischen allen Städten Europas: diese Fremdkörper in den Lücken der alten Substanz, die einst sorgfältig geplant und gewachsen war. Irgendein Bürgermeister oder Stadtrat war immer willig, zur Einweihung dieser Monstren wohlgesetzte Worte zu finden: An einer solchen unternehmerischen Großtat werde deutlich, daß diese Stadt zu Unrecht als provinziell verschrien sei, denn auch hier sei der Fortschritt sichtbar zu Hause. Beifall, der Segen für das Gebäude, klingende Gläser und anderntags der Artikel in der Lokalzeitung mit Foto von Bauherr und Bürgermeister. Laurenti war gelegentlich dafür, auf ästhetische Vergehen dieser Schwere endlich die öffentliche Hinrichtung einzuführen. Für Architekten und Stadtplaner.
Proteo Laurenti ließ sich bei Rossana Di Matteo anmelden und ging zum Aufzug des Hauptgebäudes, in dem die Großraumbüros von Redaktion und Verwaltung lagen. Die Neonbeleuchtung lief meist auch tagsüber. Schreibecken mit Bildschirmen, abgetrennt durch dünne, halbhohe Stellwände, deren blauer Bezug sich mit dem Graugrün des
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